Und aus der Haut fahren? Vielleicht, ja
Und aus der Haut fahren? Vielleicht, ja. Tanz als religiöse Handlung? Kein Thema.
Wir sind im Stratford Circus in Londons Osten, es ist Freitag, 11 Uhr morgens, und «Leap of Faith – a dance class for anyone 50+» hat eben begonnen. Von Exercice, jenen täglichen Exerzitien der Tänzer, wollen die über Fünfzigjährigen jedoch nichts wissen, sie wollen keine streng geregelten Körperübungen, sondern sich ausdrücken mit dem Körper. Was, wie sich herausstellt, gar nicht so einfach ist. Eine Geschichte erzählen und sie dann tanzen – die Aufgabe wirft alle zurück in Schauspiel und Pantomime. Denn Erzählen mittels Tanz erfordert nicht nur ein hohes Abstraktionsvermögen, sondern auch einen Körper, der das, was der Geist will, ausführen kann.
Tanz als gesellschaftliches Ereignis und Ausdruck, Tanz als Theater, Tanz mit den Regeln, Tanz wider die Regeln – bereits an der ersten Station dieses Rundgangs durch verschiedene Tanzszenen einer Grossstadt offenbaren sich die Linien und Widersprüche, die der Tanzkultur des Westens eigen sind.
Bis in die Hälfte des 17. Jahrhunderts wird in Europa kaum zwischen Bühnentanz und Gesellschaftstanz unterschieden: Der Adel tanzt seine eigenen Ballette, mit dabei, schon aus politisch-repräsentativen Gründen, ist auch der König. 1661 gründet Louis XIV die Académie Royale de Danse, auf dass Lehrer ausgebildet und die Regeln, nach denen der Hof tanzt, in ein gültiges System gebracht werden.
Zu dieser Zeit entsteht der Stand der Berufstänzer. Denn die Figuren und Bewegungen werden zunehmend komplizierter, und als der König nicht mehr öffentlich als Bühnentänzer auftreten will, zieht sich auch der Adel mehr und mehr zurück. Des Königs Tanzmeister Pierre Beauchamps kodifiziert die fünf Positionen der Füsse, auf denen die Technik des klassischen Balletts beruht, definiert wurden sie allerdings bereits im 16. Jahrhundert. Wie auch die Tanzkunst des Adels sich schon früher vom Tanz des Volkes abgesetzt hatte. Noblesse oblige – ab dem 16. Jahrhundert heisst das in Frankreich: Wer dazugehören will, muss tanzen können, Pavane, Branle, später Menuett und andere Kompliziertheiten.
Katharina von Medici hat nach der Heirat mit König Heinrich II. 1533 ihre höfischen Gepflogenheiten aus Italien mitgebracht, darunter auch die Tanzfeste und Ballettvorstellungen. Sie engagiert den italienischen Violinisten Baldassare di Belgiojoso, der als Tanzmeister ihren Söhnen und andern Hofmitgliedern das Tanzen beibringen soll und 1581 das «Ballet comique de la Reine» choreographiert, ein Markstein in der Geschichte des französischen Balletts. Ihr Beispiel macht Schule, um 1600 sollen in Paris 300 Tanzlehrer gewirkt haben, die Kunst des Tanzes wird zum Zeichen höfischer Macht, in Frankreich wie zuvor bereits auch in Spanien, Italien, England.
So schlägt der Hof der Kirche ein Schnippchen. Diese hat den Tanz aus ihren Ritualen ausgeschlossen und brandmarkt den Tanz des Volkes als Teufelswerk, ordnet ihn dem Sexuellen, der Sünde zu, ja dem Todeslastigen. Sie macht das, wie die Soziologin Marion Koch darlegt, in bildlichen Verbindungen von Tanz und Tod, etwa in den Totentanzdarstellungen.
Die Hofkultur aber erlaubt – unter Einhaltung des strengen Codes – ein gewisses Mass an Galanterie und führt gleichzeitig den Tanz in geregelte Bahnen. Von den Bällen und Balletten des Hofs führt der Weg zum Bild der von strenger Körperbeherrschung entkörperlichten Ballerina, in dem bis ins 20. Jahrhundert Todesangst und Todessehnsucht aufbewahrt und sublimiert werden. Die schwerelosen Feen der Romantik sind nicht selten todbringend, und sie stehen in Verbindung mit einer anderen Welt, stellvertretend für die Gemeinde, die sich nicht tanzend ihrem Gott nähern darf. Gleichzeitig verkörpern diese nach oben strebenden Seelen die Vision eines Menschen, der sich von der Conditio humana löst und sich über die Anziehungskraft der Erde hinwegsetzt.
Nachmittags um eins tanzen Gesellschaft und Kunst im Royal Opera House. Allerdings, wie heute bei uns üblich, streng getrennt: Im Ballettstudio probt das Royal Ballet, in der lichten Vilar Floral Hall spielen Musiker des Opernorchesters zum Tanz auf. Man ist nett gekleidet und benimmt sich nett. Tea Dance ist in London hip bei der älteren Generation, die, wie mehrere Teilnehmer betonen, noch tanzen gelernt hat. Und er wird geregelt wie ein Hofzeremoniell. Abfolge der Tänze, Zeiten, Tempi sind festgelegt, der Zeremonienmeister sagt den Stil an, zum Beispiel den Quickstep, der hier paarweise im Kreis und in der Kette getanzt wird, fast so, wie einst die Urahnen sich reihten.
Denn dass Mann und Frau sich in den Armen liegen und von Angesicht zu Angesicht den Tanz gemeinsam gehen, ist eine relativ junge Entwicklung und eine spezifisch westliche dazu. Der Weg vom Reigen zum geschlossenen Paartanz zieht sich über mehrere hundert Jahre hin. Die Entwicklung beginnt im 11. Jahrhundert, wo sich erste Hinweise auf das Öffnen der Gruppe finden, führt über jene Paarreigen, in denen das Öffnen und Schliessen der Kreise und Ketten durch die Bildung von Paaren durchsetzt wird, und endet im Walzer, der ab Mitte des 18. Jahrhunderts die bürgerliche Jugend in Bann zieht und im Wiener Walzer gipfelt, dieser Ikone bürgerlichen Selbstverständnisses.
Der Wiener Walzer verkörpert Zeitgeist pur. Er trägt in sich den Wunsch nach der Individualität von Zweisamkeit, nach Selbstentgrenzung im Andern; und während jenem früheren Walzer – den Werther tanzte und sodann «kein Mensch mehr» war – noch der Stallgeruch des Volkes anhaftete, vereint sich im Wiener Walzer die Abgrenzung von der höfischen Körperkultur mit der strahlenden Eleganz des an die Macht kommenden Bürgertums. Und das Interessante an dieser Entwicklung: Ausgerechnet eine Kultur, die Tanz und Sexualität aus der Religion ausschliesst, favorisiert den gemischten Paartanz. Tanzhistoriker wie Gerald Jonas führen dies auf die strikte Trennung von weltlichem und sakralem Leben zurück, die die europäische Kultur geprägt hat.
Tanz sei universal verständlich – diese Aussage hört man immer wieder. Sie ist so zutreffend wie die Behauptung, die lateinische Schrift sei auf der ganzen Welt lesbar; wer sich die Zeit nimmt, javanischen Tanz oder Kabuki anzuschauen, wird das erfahren.
So wie es an diesem Tag auch viele Zuschauerinnen und Zuschauer abends um acht in der Queen Elisabeth Hall erfahren, wo Süleyman Erguner und seine tanzenden Derwische auftreten. Diese Ruhe, dieses Kreisen, immer und immer wieder, ein Drehen um die eigene Achse, endlos schier, stundenlang – ein Ritual, das nur Eingeweihten verständlich ist. Tanz ist eben nicht Universalsprache, vielmehr ein Medium, das die Kultur ebenso prägt, wie es von ihr geprägt wird.
Allerdings ist den Menschen ein Drang nach Bewegung eigen, der strukturiert, wiederholt, rhythmisiert, zu dem wird, was wir Tanz nennen. Den Menschen muss also auch ein Wunsch nach Struktur und Ordnung eigen sein, der zusammen mit dem Bewegungsdrang den Tanz zur kulturanthropologischen Konstante macht. Tanzen hat in vielen Gesellschaften rituellen Charakter, und ein Ritual, erklärt die Soziologin Marion Koch, schafft und ist Ordnung zugleich. Strenge Strukturen, eine klare Symbolik, Wiederholungen vermitteln ein Gefühl von Zusammenhalt und Sicherheit. Tanz ist identitätsstiftend; wo immer getanzt wird, manifestiert sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe.
Tanz ist in den meisten Kulturen eingebettet in Riten, die von einem zum nächsten Lebensabschnitt überleiten. Im Mittleren Osten wird bei Beschneidungen getanzt, in Puerto Rico bei Taufen, in Afrika bei Bestattungen, die meisten Völker tanzen an Hochzeiten. Und der Tanz steht in vielen Kulturen an der Schwelle zu einem andern Ort, zum Unsagbaren, zum Heiligen, zum Reich der Geister, Götter oder Ahnen, zu dem er, ähnlich einem Gebet, Zutritt verschaffen soll.
Die Derwische drehen sich im Sema, auf dass sich die Seele aus den irdischen Banden löse, um sich mit Gott zu vereinen. Die Hopi bitten mit dem Schlangentanz die Geister um Regen. In Indien tanzen die Götter: Die Hindugottheiten Shiva und Vishnu werden häufig tanzend dargestellt – warum also soll sich der Mensch ihnen nicht auch tanzend nähern? Die westafrikanischen Yorubapriester trachten danach, den Gott mittels Tanz im eigenen Körper zu erschaffen, was diesen Körper erbeben, in Trance und Bewusstlosigkeit fallen lässt.
Derlei musste die gläubigen Christen ebenso erschrecken wie die aufgeklärten Intellektuellen. Die christlich-abendländische Kultur hat den Tanz aus ihren religiösen Praktiken ausgeschlossen. Die Urkirche hat ihn nicht in die Liturgie aufgenommen, Tanzen galt als heidnische Frömmigkeit. Im Mittelalter muss allerdings, wie man den Tanzverboten entnehmen kann, bei verschiedenen kirchlichen Festen getanzt worden sein. Doch wussten die Kirchenoberen schon früh zwischen guten und bösen Tänzen zu unterscheiden; das Entgrenzende, Unbeherrschte war ihnen suspekt. Und Tanzen wurde zunehmend böser, dem Streben nach ewigem Leben entgegengesetzt und im Zuge von Reformation und Gegenreformation ganz aus dem spirituellen Leben verbannt.
Doch während man die Tänze des Volkes verurteilte – es muss da allerdings auch ziemlich deftig zu und her gegangen sein -, liess man den Hof tanzen. Die Geschichte des Tanzes in der westlichen Gesellschaft ist eine Geschichte von Tanzverbot, Tanzrausch, Tanzzähmung.
Heute schauen wir den Derwischen zu, zahlen, um uns an ihrer Gottessuche zu ergötzen, diesem stundenlangen Drehen. Schliesslich hüllen sich die Derwische in ihre dunklen Mäntel. Klatschen sei nicht erlaubt, sagt der Veranstalter, das hier sei eine heilige Handlung. Dann geht’s ab in den Tangosalon oder in die Disco, es ist schliesslich Freitagnacht.
Um zehn stehen Teenager Schlange vor den Clubs am Leicester Square. Im «Turnmills» pumpen die DJs den Raum auf, heisser wird der Beat. Die Tanzenden halten die Hände in die Luft: links, rechts, links, rechts oder linkslinks, rechtsrechts, wer’s elaborierter mag. Der Schritt ist einfach zu lernen, das gehört dazu. Hauptsache, er kommt schön aus der Hüfte raus – it makes you feel sexy.
Längst haben sich Mann und Frau aus der Umarmung gelöst. Im 19. Jahrhundert, während die Paare durch die Säle walzerten, hatten sich in Nordamerika afrikanische und europäische Formen zu vermischen begonnen. Tänze entstehen, die Improvisation erlauben, finden im 20. Jahrhundert den Weg nach Europa und werden hier – wie auch der argentinische Tango – ein bisschen zurechtgestutzt.
Der Charleston führte die Paare zurück in die Reihe, im Lindy-Hop, später im Rock’n’Roll trennen sie sich kurz, bleiben aber klar ein Paar. Doch 1960 singt Chubby Checker «The Twist», und mit dem Händchenhalten ist Schluss. In der Folge ist Freestyle angesagt, in jeder Beziehung: keine festen Schrittfolgen, keine feste Paarung mehr, kein Führen, kein Geführtwerden – keine Regeln eben. 1968 zeichnet sich ab, jene Rebellion, welche die Verhältnisse der Geschlechter und die Beziehung der Menschen zu Autoritäten und Institutionen grundlegend verändern wird.
Disco-Solo hat sich gehalten, hat die Wiesenfeste der Hippies ebenso überlebt wie die Disco-Flaute der Siebziger und die Pogo-Anfälle der Punks und ist, uniformer geworden, auch an die Parties der Techno-fans geladen. Das Schrittmaterial ist von jedem sofort erlernbar, wenn auch nicht jeder und jede gleich leicht aus der Hüfte schwingt. Die Rebellion läuft nun entgegengesetzt: Von den Rändern der Städte her kommt ein Tanz, der ein Höchstmass an Training und Körperbeherrschung erfordert und darin dem Ballett vergleichbar wird: Breakdance. Wer bei den Headspins mitdrehen will, muss üben, üben, üben – wie weiland die Menuett-Grazien.
Auch ist es kein Zufall, dass zu derselben Zeit, da die Raver mit ihrem Eins-links-eins-rechts-Muster und ihrem Körperfetisch zu Hunderttausenden die Strassen überschwemmen, der gute alte argentinische Tango aus der Kiste geholt, entstaubt und in vielen Stunden verbissen gelernt wird. Man muss ja irgendwie zeigen, dass man den Kopf noch hat.
Derweil jauchzt die Technogemeinde im «Turnmills» bei jedem Höherschrauben des Beats auf. Linker Fuss, rechter Fuss, den Körper schütteln, aus der Haut fahren, Tausende von Leibern in ein und demselben Takt. Dieser Tanz hat keinen Anfang und kein Ende, keine Regel, nur die: Alle tanzen, solange sie aufrecht stehen können. Und: Es ist völlig egal, ob irgendein Gott daran gefallen findet.