Spagat über alle Gräben
15- bis 24-Jährige will das DRS-Radio Virus ansprechen. Als ob sich die auf einen Nenner bringen liessen.
Der Mann hat schon immer viel geredet, jetzt wird er ausführlich, wenn er nur schon das Telefon abnimmt: «François Mürner, Virus, Radio neuste Generation», meldet sich der Chef des jüngsten SRG-Kanals. Womit er klarmachen will, dass sein Jugendsender nicht bloss Jugendsender ist, sondern etwas Revolutionäres. «Diese Generation», sagt Mürner, «ist bereit für mehr als nur ein weiteres Radioangebot.»
Er meint die Menschen zwischen 15 und 24. An die richtet sich Mürners Virus, der SRG-Frischling, der am 20. November loslegt. Vom Basler Nobelhügel Bruderholz wird er Musik, Musik, Musik und Beiträge über junge Themen senden, per Kabel, digital und – neuste Generation! – konstant multimedial. Eine direkte Konkurrenz zum Privatradio 105 Network im nahen Industrieort Muttenz.
Beide buhlen ums gleiche Zielpublikum, beide haben dasselbe Problem: Jugend, das lässt sich schwer über einen Leisten schlagen. Und so buhlt jeder auf seine Art um den kunterbunten Haufen. Der eine Sender, Virus, spekuliert auf die Ex-und-hopp-Mentalität der Clipkids: Beim Musikprogramm soll alles brandaktuell sein, kein Sound ist älter als zwei Jahre. Die Moderatoren sind etwa gleich jung wie die Wunschhörer, und abgesehen von Einzelfällen besteht das Team aus unverbrauchten Nobodys.
Der andere Kanal – «One O Five» – profiliert sich gern mit Halb- und Ganzprominenten, setzt Leute à la DJ Lady Tom, Stéphanie Berger, Gabriel Felder und Sven Epiney ans Sendepult. Musikalisch segelt er über den Hitparaden-Highway und scheut sich nicht, öfter bei den Meilensteinen der Popgeschichte Halt zu machen.
Wer fährt also richtig? Kaum zu sagen, obwohl keine Altersgruppe so gut erforscht ist wie die 15- bis 24-Jährigen. Denn die Studienergebnisse spiegeln stets, dass Jugendliche alles Mögliche sind. Schon ein kleiner Altersunterschied kann enorme Kulturgräben aufreissen. «Was ein 16-Jähriger hört, findet ein 18-Jähriger völlig Scheisse», sagt Bettina Semmerling, frühere «Bravo»-Frau und Spezialistin für Jugendmedien. Und quer durch die Jahrgänge beäugen sich die Fraktionen kritisch – da gibt es Ambient- oder Big-Beat-Fans, Heavy-Metal- und Hip-Hop-Freunde, auch Gölä wird geschätzt. Was die Stämme eint, ist latente gegenseitige Abneigung. In Zahlen heisst das zum Beispiel: Knapp die Hälfte der Teenager hört konventionellen Pop, die Hälfte mag Rock, ein Viertel schätzt auch Soul, ein Drittel tanzt zu Techno, ein Drittel zu Hip Hop – das ergab letztes Jahr eine Umfrage bei über dreitausend deutschen Jugendlichen.
«Die Jugend existiert faktisch nicht», sagt Beny Kiser, der für Jugendsendungen zuständige Chef beim Fernsehen DRS. «Es gibt nur Facetten innerhalb der Altersgruppen, die sich manchmal zu gemeinsamen Nennern zusammenfinden.» Von «vielen kleinen Szenen ohne grosse Berührungspunkte» redet Thomas Münch, der an der deutschen Universität Oldenburg den Radiokonsum von Kids erforscht hat. «Auf diese Szenen kann sich ein Radiosender nicht verlassen.»
Das stürzt die Macher ins Dilemma: Denn der Erfolg entscheidet sich fast vollends über die Musik, auch das ist mehrfach erforscht. Die Mehrheit der Jugendlichen verlangt von den Stationen möglichst Musik en masse und immer solche, die «voll geil» ist. Anderseits reicht Musik allein nicht, um die hurtig zappende Hörerschaft – ex und hopp – an den Sender zu binden. «Damit ihr Publikum treu bleibt», sagt Münch, «müssen sich die Stationen an den grundlegenden Fragen der Jugendlichen ausrichten.» Themen seien etwa die Loslösung von den Eltern, der Aufbau von Freundeskreisen oder die Sexualität.
Virus-Macher Mürner sieht das auch so. Themen wie Gesundheit, Sex, Schule und Glück werden darum auf dem neuen Sender abends ab acht behandelt. Mürners Kontrahent schüttelt da nur den Kopf: «Es ist Unsinn», sagt Giuseppe Scaglione von Radio 105, «abends Sendungen zu bringen, die nichts mit dem Tagesprogramm zu tun haben.»
Neue Verbreitungsformen spalten das Zielpublikum weiter auf. Internet, Digitalradio und Kabelnetze zerstückeln die Senderwelt. «Das Ende des Zeitalters des Massenmediums ist eingeläutet», sagt Radioexperte Münch, «unzählige individuelle Kanäle wie beim Internet wird es bald auch für Radiohörer geben.» Gerade beim jungen Publikum mit seiner Nähe zu neuen Medien mag bald das Szenario eintreffen, das die Medienfachfrau Bettina Semmerling entwirft: «Die neue Formel könnte heissen: Jeder stellt sein eigenes Programm zusammen.»