Silicon Taiga

Silicon Taiga

Sie designen Web-Sites und schreiben Programme für Weltfirmen: Im sibirischen Akademgorodok proben russische Computer-Freaks den Aufschwung.

Repräsentativ geht es nicht zu bei der aufstrebenden Software-Firma ProPro. Die Bürotüren sind mit einer schmutzig grünen Farbschicht überzogen und hängen schief in ihren Rahmen; das Klo lässt sich mit geschlossenen Augen finden – immer der Nase nach. Das ist auch gut so, in den langen, dunklen Fluren des Gebäudes fänden sich Ortsfremde sonst nur schwer zurecht. Das junge russische Unternehmen ProPro hat Räume im Rechenzentrum von Akademgorodok gemietet, einem kleinen Städtchen mitten in Sibirien. Das millionenschwere, glitzernde Silicon Valley ist weit, weit weg von hier.

Wladimir Maljuch ist das Ambiente egal: «Wir sind ein Betrieb und kein Laden, wir müssen nicht schön aussehen.» Der 33-jährige Maljuch ist Chef von 16 Mitarbeitern, die ein Grafikprogramm entwickeln und an spezielle Kundenwünsche anpassen. Repräsentation ist offenbar auch nicht nötig: Mit dem Programm aus der kleinen sibirischen Entwicklerstube arbeiten schon jetzt italienische Möbeldesigner, eine deutsche Fernsehproduktionsfirma und das in Russland für seine Jagdflugzeuge berühmte Suchoj-Konstruktionsbüro.

Das Städtchen Akademgorodok, dreissig Kilometer südlich von Nowosibirsk, hat schon bessere Tage gesehen. Doch die glanzvollen alten Sowjetzeiten, das wissen alle, kehren nie wieder zurück. Dafür hat ein neuer Aufschwung die sibirische Provinzstadt ergriffen: 40 bis 50 Computer-Firmen sind in den letzten zehn Jahren hier entstanden. Gut 1500 Leute finden in der Branche Lohn und Brot – und das in einem Landstrich, den sich die meisten Menschen im Westen als tiefste Wildnis vorstellen. Einige nennen das Ganze schon «Silicon Taiga».

In einem stillen Tal am Rande der Taiga gelegen, war Akademgorodok vierzig Jahre lang ein Paradies für sowjetische Wissenschaftler, eine Reissbrettsiedlung, bei deren Errichtung der Staat keine Kosten gescheut hatte: Er stellte fast unbegrenzt Forschungsmittel zur Verfügung und sorgte für Lebensbedingungen, von denen die meisten Russen nur träumen konnten. Die Wohnungen waren grosszügiger, die Gehälter sehr viel höher und die Läden der Stadt nicht schlechter gefüllt als die der Moskauer Nomenklatura. Hier, am Ufer des Obsker Meeres, eines künstlich aufgestauten Sees, sollte eine Elite von Wissenschaftlern wachsen – zu Ehren der sozialistischen Forschung, aber durchaus auch zum Nutzen der Rüstungsindustrie.

Das ist vorbei. Nur mit Mühe widerstehen die Häuserfassaden dem Wetter; auf den Strassen bitten erste Bettler um milde Gaben, und zum Einkaufen fahren die Einwohner inzwischen nach Nowosibirsk. In den 35 Instituten am Lavrentjew-Prospekt, der Hauptstrasse, sind die meisten Forschungsprojekte gestoppt, weil weder Staat noch Industrie dafür zahlen können. Viele Wissenschaftler, allen voran die Atomexperten, sind auf der Suche nach Wohlstand ausgewandert, und jeden Monat zerbricht sich der Rektor der Universität den Kopf darüber, wie er die Stromrechnung bezahlen soll.

Die meisten der neuen ComputerUnternehmer, die nun für Wohlstand sorgen, haben schon ihr halbes Leben in Akademgorodok verbracht, so wie Wladimir Maljuch: erst an der «Spezialschule für Mathematik und Physik», später als Student des Instituts für Elektrotechnik und schliesslich als Teil der so genannten Kronos-Gruppe. Deren Mitglieder, Studenten der älteren Semester, wollten 1983 haben, was heute für die meisten selbstverständlich ist: einen eigenen Computer zu Hause. Ein unrealistischer Wunsch zu einer Zeit, zu der in den sowjetischen Läden selbst Schokoladenbonbons als Mangelware galten.

Also knobelten und bastelten die Studenten erst alleine, später mit Unterstützung ihres Vorgesetzten, bis sie im Sommer 1984 ihren Computer mit dem Namen Kronos 1 anschalteten und sahen, «dass es ein furchtbares Monster geworden war. Umständlich, kompliziert und überhaupt nicht lebensfähig», wie sich einer der Beteiligten erinnert. Erst der nächste Entwurf, Kronos 2, funktionierte zur Zufriedenheit und avancierte zum einzigen sowjetischen PC, der einige Jahre lang serienmässig hergestellt wurde.

Wladimir Fillipow war für die Hardware des Studenten-Computers zuständig. Mit heiligem Eifer habe er das «Dingelchen» nächtelang im Wohnheim zusammengebastelt, erzählt er, und noch immer schwingt Nostalgie in seiner Stimme bei der Erinnerung an die Kronos-Zeit. Die war vorbei, als 1991 das sozialistische Reich in seine Einzelteile zerfiel. Mit einem Monatsgehalt, das «gerade für zwei Hühner auf dem Markt» reichte, mussten Spezialisten wie der Physiker Fillipow und seine Ehefrau Marina zurechtkommen. «Wir haben mit unserem Auto Leute durch die Gegend kutschiert und so das erste Mal im Leben echte Dollars verdient», erzählt Marina Fillipowa, eine schmale Person mit Mireille-Matthieu-Frisur. Die 38-Jährige ist Mathematikerin, Spezialgebiet Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie hätten eine zu gute Ausbildung, um für den Rest ihres Lebens als Taxifahrer zu arbeiten, fanden die Fillipows – und nicht nur sie: Immer wieder wird das Paar von Freunden nach Kalifornien gerufen. Gut die Hälfte der Ex-Kronos-Gruppe hat dort Arbeit gefunden und schwärmt per E-Mail vom Klima, den guten Strassen und dem unkomplizierten Leben. Die Fillipows aber winken immer wieder ab. «Das ist vielleicht dumm vom wirtschaftlichen Standpunkt her», sagt Wladimir Fillipow, «aber wir haben, was wir brauchen: den Wald, die Altai-Berge in der Nähe und die alten Freunde, unsere Brüder im Geist.»

Inzwischen verdient das Paar seinen Lebensunterhalt mit der 1992 gegründeten Software-Firma XTech. Die baut für vorwiegend russische Kunden Web-Seiten, bietet den Aufbau von betriebsinternen Computer-Netzen an oder schreibt Datenerfassungsprogramme wie kürzlich für die Hafenbehörde der russischen Stadt Nachodka. Damit werden nun Herkunft, Weg und Ziel von Schmuggelwaren erfasst, beispielsweise die Reiseroute der in Russland beliebten japanischen Gebrauchtwagen.

Wie viel der Firmenchef mit seiner Software verdient, verrät er nicht gern: «Wir sind hier in Russland, da soll man nicht zu konkret werden», murmelt Wladimir Fillipow. Nur eins könne er sagen: Seinen fünfzehn Angestellten zahle er im Schnitt 20 Dollar Stundenlohn, ein geradezu fürstliches Gehalt – und trotzdem lächerlich wenig im Vergleich zum internationalen Markt.

Die Kombination aus guter Ausbildung und geringen Personalkosten lässt inzwischen auch grössere Firmen entstehen: Die Software-Firma Avalon’s Tree sitzt im Rechenzentrum nur einige Türen von ProPro entfernt und ist schon auf über einhundert Mitarbeiter angewachsen. Eine Filiale im kanadischen Ottawa hält die Kunden bei der Stange, die nichts in Russland in Auftrag geben wollen; sie wurde kurzerhand zum offiziellen Firmensitz erklärt. Zehn Leute arbeiten in Ottawa, die meisten sind emigrierte Russen. Es funktioniert. «Wir bekommen einen Auftrag nach dem anderen», sagt Oleg Schatochin, einer der Firmeneigner, der sich nun «Generaldirektor der russischen Niederlassung» nennt.

Schatochin, 33, ein breitschultriger Sibirier mit vergnügten blauen Augen, hat kaum noch Zeit, seiner 12-jährigen Tochter abends Geschichten aus Fantasy-Büchern zu erzählen: über Helden und Zauberer und die Erschaffung von neuen Welten. Er plant mit seinen Kollegen selbst eine neue Welt, ein Märchenland für Programmierer. Avalon’s Tree hat mit dem verdienten Geld ein Kinderferienlager gekauft. Idyllisch in einem Fichtenhain am Ufer des Obsker Meeres gelegen, soll dort ein wissenschaftliches Eldorado entstehen, in dem Computer-Experten mit Zeitverträgen an grösseren Aufgaben arbeiten sollen. «Die Leute müssen hier gerne arbeiten und auf gar keinen Fall mehr weggehen wollen», sagt Schatochin.

Der Mann weiss, wovon er spricht: In den letzten fünf Jahren sind zwölf seiner besten Spezialisten zu Microsoft abgewandert, obwohl die Firma Avalon’s Tree gar nicht schlecht lief. Zunächst hatten die Russen die veraltete Software des nordamerikanischen Telefonriesen Nortel Networks auf Vordermann gebracht, später interessieren sich auch andere Unternehmen wie die Schweizer Lunglife SA oder die Glance AG für die sibirischen Compiler und Konvertierungsprogramme, Werkzeuge für andere Programmierer. Aber Erfolg war nicht genug, bedauert Oleg Schatochin. «Also mussten wir uns verändern. Von Grund auf.»

Der Programmierer sei ein Künstler, heisst die neue Firmenphilosophie, «deshalb müssen wir alles tun, damit diese Blume blüht». Also hat sich Avalon’s Tree den Luxus von fünfzehn fest angestellten Psychologen geleistet, die sich um das Wohl der Mitarbeiter kümmern, auch schon mal dabei helfen, eine Ehekrise zu lösen. Inzwischen sind in Ottawa auch ehemalige Kollegen wieder dabei, die vor Jahren von West-Firmen abgeworben wurden. Und Oleg Schatochin bekommt keine Jobangebote von Microsoft mehr. «Wahrscheinlich haben die es gemerkt», sagt er: «Abwerbungsversuche haben bei mir überhaupt keinen Sinn.»

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