São Paulo beschäftigt 1500 Polizisten
Erst vor kurzem hatte es zwei Entführungen in der Nähe der Schule gegeben. Das Viertel gehört zu den besseren der Stadt. Die Häuser liegen in schönen Gärten, und auf den Strassen fahren in der Sonne glänzende, gepflegte Autos.
Eines der Entführungsopfer ist an diesem Abend anwesend. Der Mann ist vor seinem Haus mit Frau und Tochter gekidnappt worden; Stunden und Stunden bangten sie eingepfercht im Kofferraum eines Autos um ihr Leben, bis sie endlich freigelassen wurden. «Letzte Woche habe ich zweimal nachts ins Bett gemacht», erzählt der etwa Fünfzigjährige; alle leiden sie noch immer unter den Nachwirkungen der Gefangennahme.
Eine Mutter meldet sich und fordert mehr Wachen an der Schule. Ein Vater will ein Gesuch an die Bürgermeisterin stellen, er verlangt eine entschiedenere Bekämpfung der Kriminalität. Und ein Dritter ruft das Publikum dazu auf, sich doch endlich gegen das Verbrechen in São Paulo zu organisieren. Die Aufrufe wirken verzweifelt, fast jeder hier weiss, dass man kaum eine Chance hat, und auf den Staat kann man in Brasilien sowieso nicht setzen.
«Draussen auf der Strasse herrscht Krieg», sagt der breitschultrige Frank Salewski. Der ehemalige Polizist aus Deutschland hat gemeinsam mit einem Compagnon eine Sicherheitsfirma aufgebaut: Verhaltens- und Fahrtraining für Führungskräfte, ihre Chauffeure und Bodyguards. Die Sicherheitsbranche in São Paulo boomt. Die Kriminalitätsrate in der Zwanzig-Millionen-Metropole ist in den vergangenen drei bis vier Jahren stetig gestiegen. Die amtliche Statistik ist niederschmetternd: Allein in den drei Monaten von Juli bis September letzten Jahres wurden im Grossraum São Paulo 2300 Menschen ermordet, gab es 78 Entführungen, 60 000 Diebstähle und Einbrüche. Rund 60 000 Mal wurde jemand überfallen; einen Drittel der Opfer traf es im Auto. Es gibt fast keine Familie, in der nicht schon einmal jemand beraubt oder überfallen wurde.
Alle sind betroffen – von der Hausangestellten bis zum Fernsehstar. Jede Bevölkerungsschicht zieht eine bestimmte Art von Kriminalität an, oder wenn man es ökonomisch ausdrücken will: Jeder Kriminelle schaut, wie er mit seinen Mitteln – sei das eine Pistole oder ein Fluchtfahrzeug – die beste Rendite herausholen kann. So hält das 12-jährige Mädchen eine Glasscherbe an den Hals des Fahrers, der gerade an der roten Ampel stoppt. Der Drogensüchtige klopft unmissverständlich mit seiner geraubten Pistole an die Autoscheibe. Die organisierte Bande überfällt ein Restaurant oder entscheidet sich für eine sogenannte Blitzentführung: Man steigt bei Rot in ein haltendes Auto, zwingt den Fahrer, beim nächsten Automaten Geld abzuheben, und hält ihn gefangen, um noch ein, zwei Tage seine Tageslimite auszuschöpfen.
Auch die Kriminalität unterliegt der Mode. Wurden früher Banken überfallen, gilt das mittlerweile als völlig unattraktiv. Die Finanzinstitute sind bewacht wie die Kronjuwelen der britischen Königin. «Für einen Banküberfall brauchen Sie heute mindestens 30 000 Reais (ungefähr 22 000 Franken), um ein oder zwei gestohlene Autos zu kaufen; Sie müssen einen ganzen Trupp anheuern und brauchen Leute, die Schmiere stehen. Und am Ende teilen Sie die erbeuteten 20 000 Reais durch fünf. Das lohnt sich gar nicht mehr», erklärt ein Sicherheitsexperte.
Auch Hauseinbrüche sind schwierig geworden, gilt es doch in der Regel, eine hohe Mauer zu überwinden und eine Alarmanlage auszutricksen. Ein grosser Teil der Kriminalität hat sich auf die Strasse verlagert. Wenn Häuser überfallen werden, dann meist von der Sorte Diebe, die kurz vor der Garageneinfahrt mit Waffengewalt zu einem ins Auto steigen.
In São Paulo hat die Kriminalität solche Ausmasse angenommen, dass sie zum Alltag gehört. Die Überlebensstrategie der Paulistaner, wie sich die Einwohner der Stadt nennen: so viele Vorkehrungen wie möglich treffen und gleichzeitig versuchen, ein ganz normales Leben zu führen.
So kauft man beispielsweise nur noch in einem der grossen, bewachten Shoppingcenter ein. Man versucht, nicht aufzufallen, trägt Jeans, ein T-Shirt und kaum Schmuck und fährt, auch wenn man sich eine grosse Luxuslimousine leisten könnte, einen Kleinstwagen; schon ein Golf fällt auf. Die Gefahr wird verdrängt und zum Partygesprächsstoff heruntergespielt; sie zeigt erst dann wieder ihren Schrecken, wenn in unmittelbarer Nähe etwas passiert ist.
Jeder schützt sich, so gut er kann. In den Armenvierteln, wo die Einwohner oft unter den Drogenkämpfen der Banden leiden, bewachen räudige Mischlingshunde die Bretterbuden; in den besseren Gegenden beherrschen abgerichtete Dobermänner und deutsche Schäferhunde die gepflegten Vorgärten. Wer es sich leisten kann, wohnt in einem Kondominium, wo Wachleute rund um die Uhr für Sicherheit sorgen. Die meisten der unzähligen Hochhäuser in der Betonwüste von São Paulo sind mittlerweile bewacht. Familien ziehen in von hohen Mauern geschützte Wohngebiete wie Alphaville, eine riesige Wohnsiedlung vor den Toren der Stadt. Strenge Zutrittskontrollen halten ungebetene Gäste fern. «Dort kann man sogar auf den Strassen spazieren gehen», schwärmt ein Immobilienmakler.
Wer in einem Haus im Zentrum wohnt, muss seine Sicherheit selbst organisieren. In den Vierteln der oberen Mittelklasse patrouillieren Wächter auf der Strasse, und viele Bewohner haben einen Sicherheitsdienst engagiert, der im Notfall gerufen werden kann und der mit einem rotierenden Lichtsignal auf der anderen Strassenseite steht, wenn man durch das automatische Garagentor fährt.
Die Sicherheitsbranche macht gute Geschäfte. Rund 70 Prozent des Umsatzes der Branche in Brasilien entfallen auf São Paulo, die wohl geschäftigste Wirtschaftsmetropole Lateinamerikas. Hier arbeiten mittlerweile 12 000 privat angestellte Sicherheitsleute. Die Stadt São Paulo beschäftigt 1500 Polizisten, die meisten sind schlecht bezahlt und viele korrupt.
In den Nobelvierteln werden die Villen durch hohe Mauern abgeschirmt; Kameras registrieren jede Bewegung; eigenes Wachpersonal und gepanzerte Autos sind in der brasilianischen Oberschicht die Regel. Der schwerreiche Präsident der Supermarktkette Pão de Açúcar, Abilio dos Santos Diniz, gibt jährlich über eine Million Dollar für die Sicherheit seiner Familie aus. Rund fünfzig Bodyguards stehen ständig bereit, seine Villa ist mit modernster Sicherheitstechnik ausgerüstet, und zu Geschäftsterminen fliegt er in seinem gepanzerten Helikopter. Damit ist er nicht allein. Wer es sich leisten kann, entflieht dem Verkehrschaos und der Strassenkriminalität mit dem Hubschrauber. São Paulo hat eine der weltgrössten Hubschrauberflotten. Grosse Hotels haben längst ihre eigenen Landeplätze auf dem Dach eingerichtet.
Empfehlenswert ist auch, sein Auto panzern zu lassen. Das ist bereits für 10 000 Dollar möglich, aber für eine richtig gute Panzerung muss man schon 30 000 Dollar hinlegen. «Dann können die an der Ampel ruhig mit einer 44er-Magnum kommen», sagt Frank, der ehemalige deutsche Polizist.
Die beste Ausrüstung jedoch hilft nichts, wenn man sich falsch verhält, sagt ein Sicherheitsexperte, der die aus dem Ausland kommenden Führungskräfte grosser Unternehmen berät. Vor allem die Europäer seien oft ein bisschen unbedarft. Er gibt folgende Verhaltensregeln: Nie den gleichen Weg zur Arbeit fahren, keine Kontoauszüge in den Müll werfen und sich möglichst nicht in den Klatschblättern zeigen. «Diese Zeitschriften sind die beste Informationsquelle für die Banden», meint er. Je nach Sicherheitsstufe werden auch die Kinder bei Discogängen und anderen Freizeitvergnügen diskret von Sicherheitsleuten begleitet.
Die absolute Sicherheit aber kann sich auch die Oberschicht in São Paulo nicht erkaufen. Nur knapp entgingen die drei Kinder von Jorge Paulo Lemann, dem Gründer des Banco Garantia, der später von der Credit Suisse Group übernommen wurde, einer Entführung. Von den Kugeln, die auf die gepanzerte Limousine abgefeuert wurden, ging eine durch und traf den Fahrer. Der Geschäftsmann mit Schweizer Wurzeln hat daraufhin São Paulo verlassen und lebt heute mit seiner Familie in Miami.