Opfer Kind
Die Tat von Effingen bewegt die Schweiz. Doch heimlich findet sexueller Missbrauch von Kindern täglich statt. 45’000 Mädchen und Knaben sind jedes Jahr in der Schweiz betroffen.
Die neunjährige Sophie hatte den Mann noch nie gesehen. Wie jeden Donnerstag verliess sie um halb vier Uhr das Schulhaus und machte sich auf den Heimweg. Kurz nach der Bahnunterführung bei der Place du Pont-du-Four in Le Landeron NE hielt ein Wagen neben ihr. Sophie wurde ins Auto gezerrt und ins 100 Kilometer entfernte Bauerndorf Effingen AG verschleppt. Im Chästel-Wald verging sich der Fremde an ihr und würgte sie mit einem Kabel. Das Mädchen, wie durch ein Wunder, überlebte.
24 Stunden später, am 11. Februar, wurde der Täter an seinem Wohnort in Aarwangen BE verhaftet. Bei seiner ersten Einvernahme gab er den Beamten zu Protokoll, er sei ziellos mit dem Wagen herumgefahren und irgendwann nach Le Landeron gekommen. Sophie, das zeigt die Rekonstruktion der Ereignisse, war ein Zufallsopfer. Zur falschen Zeit am falschen Ort.
Seither sorgt die Tat für Schlagzeilen. Kein Tag vergeht, an dem nicht weitere Details aus dem Leben des Peinigers enthüllt werden. Und nicht nur Eltern stellen sich besorgt die Frage: Wie gefährdet sind unsere Kinder?
Jedes Jahr werden in der Schweiz rund 45 000 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Zu diesem Ergebnis kommen verschiedene Studien. «Betroffen ist jedes vierte Mädchen und jeder siebte Knabe bis zum 16. Lebensjahr», schätzt Dorothea Bieler von der Beratungsstelle Castagna für sexuell ausgebeutete Kinder in Zürich. Sexuelle Gewalt an Kindern, das dokumentieren die Statistiken, gehört in der Schweiz zum Alltag. «Wir haben es mit einem Massenphänomen zu tun», konstatiert Frank Urbaniok, Experte für Gewalt- und Sexualverbrechen bei der Justizdirektion des Kantons Zürich.
Ein erschreckendes Massenphänomen.
Der unbekannte Unhold aus dem Wald, der das Kind mit einer Tafel Schokolade ins Verderben lockt, ist eine Ausnahme. Die grösste Gefahr für Kinder, sexuell missbraucht zu werden, lauert in ihrer vertrauten Umgebung – in der Schule, im Sportklub und vor allem zu Hause. «Nur in fünf bis zehn Prozent der Fälle kennt das Kind den Täter nicht», sagt Franz Ziegler, Geschäftsführer des Schweizerischen Kinderschutzbundes.
Die grosse Mehrheit sind Beziehungsdelikte. Diese aber bleiben oft ungesühnt. Besonders die Kinderschänder innerhalb der Familie dürfen immer noch auf Nachsicht zählen. Die Verwandten und Bekannten schauen häufig weg, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Den Behörden sind oft die Hände gebunden, und die Richter lassen oftmals Milde walten. «Es besteht die Tendenz», sagt der Experte für Sexualverbrechen, Frank Urbaniok, «dass das Strafmass für sexuelle Übergriffe in der Familie nicht angemessen ist.»
Solche Fälle dringen auch kaum an die Öffentlichkeit – was die Wahrnehmung des Themas «Sexuelle Gewalt» verzerrt. Es sind, wie jetzt bei der tragischen Geschichte der neunjährigen Sophie, die brutalen Fremdtäter, die Schlagzeilen machen.
Am 30. Oktober 1993 vergewaltigte Erich Hauert am Zürcher Zollikerberg die Pfadiführerin Pasquale Brumann und schnitt ihr die Kehle durch. Die Tat löste Entsetzen und Entrüstung aus und inspirierte die Zürcher SVP zum umstrittenen Messerstecher-Plakat. Die Folge war eine breite öffentliche Diskussion über die lebenslängliche Verwahrung von Sexualstraftätern.
Werner Ferrari wurde 1995 wegen fünffachen Kindermordes zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Das Verfahren vor dem Bezirksgericht Baden wurde zu einem Sensationsprozess, der während Wochen die Titelseiten der deutschsprachigen Presse füllte.
René Osterwalder, für grosse Teile der Öffentlichkeit «der Baby-Quäler», wurde wegen brutalster Misshandlung zweier Kleinkinder zu 17 Jahren Zuchthaus verurteilt. Osterwalders Mitangeklagte betrat das Zürcher Gerichtsgebäude jeweils mit vermummtem Gesicht, um ihre Identität vor den Fernsehkameras und Schaulustigen zu schützen.
Sexuelle Misshandlung von Kindern in diesem Ausmass übt auf das Publikum eine ungeheure Faszination aus: Die Abscheulichkeit der Taten lässt Entsetzen aufkommen, das Vorgehen der Täter Wut und Hass, das Schicksal der wehrlosen Opfer Anteilnahme. Es sind Fälle, bei denen für die Öffentlichkeit, lange vor dem offiziellen Urteil, alles klar ist. «Bei einem fremden Täter ist das Geschehen klar einzuordnen», sagt Castagna-Beraterin Dorothea Bieler.
Die Vorverurteilung eines Fremdtäters, oft gleichbedeutend mit Verteufelung, hat nach Ansicht von Experten auch einen tieferen Grund – die Angst vor dem bösen Unbekannten.
«Das Fremde wirkt immer bedrohlich», sagt Frank Urbaniok. Einen Schritt weiter geht Franz Ziegler vom Schweizerischen Kinderschutzbund: «Sich über einen Fremdtäter zu empören, hat Ventilfunktion.» Eigenes Fehlverhalten werde auf diese Weise relativiert. «Ein Vater, der sein Kind sexuell missbraucht», sagt Ziegler, «kann sich einreden, noch lange nicht so pervers zu sein wie der Osterwalder.»
Täter aus dem persönlichen Umfeld des Kindes werden vielfach gedeckt. Im Fall Köbi F. schauten selbst Angehörige von Opfern lange weg. Der Primar- und Turnlehrer in Möriken AG hatte über Jahre mindestens fünf Mädchen sexuell missbraucht. Dafür wurde er im Mai 1999 zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Als sich eine der Schülerinnen ihrer Mutter anvertrauen wollte, antwortete diese: «Ich habe schon immer gewusst, dass du eine blühende Fantasie hast.»
Eine andere Mutter fasste jedoch Mut und beschuldigte den Lehrer der sexuellen Nötigung. Sie stiess auf eine Mauer des Schweigens, ihre Familie wurde zur Zielscheibe im Dorf. Wer den Kontakt zu ihr nicht abbrach, machte sich verdächtig. Lehrer Köbi F. dagegen blieb als Respektsperson vorerst unbehelligt. «Bei Beziehungsdelikten bildet sich oft eine Allianz mit dem Täter», beobachtet Frank Urbaniok, Experte für Sexualverbrechen.
Solche Allianzen haben für die minderjährigen Opfer fatale Folgen. Bei den Tätern handelt es sich um Personen, denen die misshandelten Kinder vertrauen und von denen sie abhängig sind. Dazu kommt, dass sich die sexuellen Übergriffe wiederholen. «Das führt zu Wahrnehmungsstörungen», sagt Castagna-Beraterin Dorothea Bieler. «Das Kind weiss nicht, ob diese Handlungen richtig oder falsch sind und ob es nicht sogar selber schuld daran ist.»
Zumindest dieses Trauma bleibt der schwerstmisshandelten neunjährigen Sophie erspart. Sie war von dem Mann, der sich letzte Woche an ihr verging und sie beinahe umbrachte, nicht emotional abhängig. Überdies ist die Schuldfrage geklärt. Der Täter ist geständig, er wird bestraft werden. «Die Verurteilung des Täters ist für viele Opfer eine grosse Erleichterung», weiss Franz Ziegler vom Schweizerischen Kinderschutzbund. Für Yvonne Gräub, Zürcher Bezirksanwältin und Spezialistin für strafrechtlichen Kinderschutz, der Hauptgrund, diese Delikte strafrechtlich zu verfolgen: «In den meisten Fällen ist eine Anzeige an-gebracht.»
Bei Beziehungsdelikten erweist sich dies allerdings als schwieriges Unterfangen. Stellen die schulpsychologischen Behörden bei einem Kind sexuellen Missbrauch fest, sind ihnen juristisch die Hände gebunden. Ohne ausdrückliche Einwilligung des minderjährigen Opfers dürfen die Beamten das Delikt nicht anzeigen. Viele Kinder können sich zu diesem Schritt nicht durchringen. Zu gross ist ihre Angst vor den Konsequenzen – zum Beispiel dafür verantwortlich zu sein, dass der Vater ins Gefängnis muss.
Auch Mütter von misshandelten Kindern fürchten die Folgen eines Gerichtsverfahrens. Mit ihrem Wegschauen, das zeigen regelmässig Ermittlungen in solchen Fällen, erfüllen sie den Tatbestand der Gehilfenschaft. Darum raten Mütter den Kindern oft von einer Anzeige gegen den Vater ab. Dies auch in der Hoffnung, den Zusammenbruch der Familie abwenden zu können.
Selbst ein Strafverfahren gegen einen Täter aus dem familiären und sozialen Umfeld des Kindes bürgt nicht für Gerechtigkeit. In Graubünden missbrauchte ein Vater jahrelang seine beiden Töchter aufs Schwerste. Als sie sich wehrten, drohte er ihnen, sie aus dem Fenster zu werfen. Das Bündner Kantonsgericht zeigte Verständnis für den Mann und verurteilte ihn lediglich zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 18 Monaten.
Täter aus dem Bekanntenkreis des Kindes kommen mit einer Verurteilung von höchstens fünf Jahren Zuchthaus davon. Fremdtäter dagegen müssen mit mindestens doppelt so hohen Strafen rechnen. Das unterschiedliche Strafmass ist auf zusätzliche Delikte zurückzuführen: Will ein Fremdtäter ein Kind sexuell misshandeln, muss er es entführen und ihm Gewalt antun. «Zum Delikt der sexuellen Nötigung kommen automatisch Tatbestände der Freiheitsberaubung und Körperverletzung hinzu», sagt Bezirksanwältin Yvonne Gräub. «Das wirkt sich auf das Strafmass aus.»
Dem Täter, der vergangene Woche die neunjährige Sophie entführt, sexuell misshandelt und fast getötet hat, droht deshalb eine langjährige Zuchthausstrafe. Für einen Teil der Bevölkerung wird selbst ein scharfes Urteil zu wenig weit gehen. Nach den Schlagzeilen der letzten Tage wird der Ruf nach einer lebenslänglichen Verwahrung für Sexualstraftäter nun wieder lauter.
Am alltäglichen Missbrauch, der im untrauten Kreis vieler Familien stattfindet und nie nach aussen dringt, würde diese radikale Massnahme nichts ändern.