Mystik statt Mao

Mystik statt Mao

Sein ganzes Leben hat Yu Changxin für die Sache der Revolution ge-kämpft. Als junger Pilot riskierte er auf Kriegsschauplätzen Kopf und Kragen für den chinesischen Kommunismus. Später, als hoch dekorierter General, bildete er eine Generation von Offizieren aus, war einer der respektiertesten Militärs der Volksrepublik – bis Anfang Januar. In einem Geheimprozess verurteilte ein Schnellgericht den 74-Jährigen, der den Rang eines Ministers einnahm, zu 17 Jahren Gefängnis. Sein Vergehen: Wie Millionen anderer Chinesen hatte sich der Pensionär der Falun-Gong-Bewegung angeschlossen, der von Peking als Teufelskult verbotenen Meditationslehre.

Das harsche Vorgehen gegen die Massenbewegung von zumeist Rentnern überrascht. In den vergangenen zwei Monaten wurde ein halbes Dutzend Falun-Gong-Anhänger zu Haftstrafen von bis zu 18 Jahren verurteilt – so lange musste in letzter Zeit kein Demokrat oder Dissident hinter Gitter. Mindestens 300 Anhänger der Heilslehre warten auf ihre Prozesse. Mit Hochdruck jagte die Sicherheitspolizei Sektenmitglieder, die am chinesischen Neujahrsfest vor zwei Wochen an landesweiten Protestaktionen teilnahmen. Insgesamt sollen über 2000 Menschen verhaftet worden sein. Viele von ihnen sind wie General Yu Parteimitglieder oder Regierungsbeamte. «Die Urteile sollen ganz klar abschrecken», sagt Sophia Woodman von der Hongkonger Menschenrechtsorganisation Human Rights in China, «die KP ist verunsichert.»

Zwei Jahrzehnte nach Chinas Öffnung spüren Maos Erben, dass ihnen die Kontrolle über ihr Riesenreich entgleitet. Diesmal sind es nicht idealistische Studenten oder Demokraten, die das Machtmonopol der Kommunistischen Partei (KP) auf den Prüfstand stellen. Es ist das Volk selbst – auf der Suche nach spiritueller Führung. Seit der Kulturrevolution (1966–1976), als China nur den Grossen Vorsitzenden Mao anbeten durfte, haben sich mehr als 200 Millionen Chinesen wieder der Religion zugewandt, davon 100 Millionen dem Buddhismus. Von den Bergbauern im tibetanischen Hochland über neureiche Christen in Schanghai bis zu den Muslimen an der Grenze zu Pakistan strömen Chinesen in Gotteshäuser und zu Treffen von Kultbewegungen.

Taoistische Meister, Meditationslehrer, Quacksalber und Wahrsager sind populär wie in den vergangenen Jahrhunderten. Eine spirituelle Massenbewegung, die Peking kaum noch unter Kontrolle hat. «Glauben schweisst die Menschen zusammen», sagt Kwok Nai-wang von der Christlichen Fakultät in Hongkong, «davor hat die KP-Führung Angst.»

Die Konflikte zwischen den weltlichen und geistigen Führern spitzen sich zu. Anfang Januar flüchtete mit dem Karmapa, dem dritthöchsten Religionsführer Tibets, der letzte einflussreiche Lama ins indische Exil – ein bitterer Rückschlag für Pekings Bemühungen, die Kontrolle über das Himalajaland zu gewinnen.

Kurz darauf kam es zum Eklat mit dem Vatikan. Gegen den Widerstand des Papstes liess Peking fünf «patriotische Bischöfe» ernennen. Der vom Heiligen Stuhl bestellte Bischof Han Dingxiang, der für seinen Glauben mehr als 20 Jahre in Gefängnissen verbracht hatte, wurde zusammen mit drei Priestern der Untergrundkirche von der Polizei verschleppt. Ein weiterer papsttreuer Bischof wurde vergangene Woche in Polizeigewahrsam genommen. Derzeit sollten mindestens acht katholische Bischöfe in Haft sein.

Mit Strafen und Verboten, müssen Pekings Mächtige lernen, lässt der Glauben sich jedoch nicht besiegen. Im muslimischen Xinjiang kämpfen trotz Repressalien uigurische Freiheitskämpfer seit Jahren für ein unabhängiges Ostturkestan. Im Januar kam es in Aksu zu einer Schiesserei mit mehreren Toten. Mindestens fünf Uiguren wurden seit Anfang des Jahres wegen Separatismus und Aufruhr von einem Gericht zum Tode verurteilt, berichten chinesische Medien. Mit Hinrichtungen, Folter und Zwangsumsiedlungen hat China allerdings genau das Gegenteil seiner Interessen erreicht: Immer mehr junge Uiguren, die unter den Chinesen keine Zukunft sehen, schliessen sich den Separatisten an. «In gewisser Weise hat Peking den Konflikt selbst provoziert», sagt Dru Gladney vom Asieninstitut der Universität Hawaii.

Pekings Religionspolitik steht vor einem Scherbenhaufen. Ende der Siebzigerjahre hatte der Wirtschaftsreformer und KP-Chef Deng Xiaoping mit einer vorsichtigen Liberalisierung des Glaubens begonnen. 1979 erhielten die ersten 19 chinesischen Muslime die Erlaubnis zur Pilgerfahrt nach Mekka. Tausende in der Kulturrevolution zerstörte Tempel, Moscheen und Kirchen wurden wieder aufgebaut. Priester, Imame und andere Glaubensführer wurden aus den Arbeitslagern befreit und durften in ihre Gemeinden zurückkehren. Seit 1982 steht die Religionsfreiheit in der Verfassung. «Der Staat schützt normale religiöse Aktivitäten», heisst es in Artikel 36. Allerdings baute sich Peking eine Hintertür ein: Alle religiösen Organisationen und Verbände, wurde festgelegt, unterstehen der Kontrolle der Kommunistischen Partei. Jede Kirche und jeder Tempel muss heute behördlich registriert werden.

Solange der Staat die Kontrolle hat, gewährt Peking seinen Bürgern Glaubensfreiheit. Vor allem in Südchina, das den von Mao verordneten Atheismus nie richtig akzeptiert hat, strömen die Menschen wieder in die Tempel. In den Kirchen der Patriotischen Katholischen Vereinigung finden jeden Sonntag Gottesdienste statt. Mehr als 85 000 Gebetsstätten wurden landesweit in den vergangenen Jahren wieder aufgebaut, 300 000 Mönche und Priester ausgebildet.

Angesichts der Wirtschaftskrise hat Peking erkannt, dass Religion durchaus auch eine positive Wirkung als gesellschaftliches Ventil hat. Buddhismus, Taoismus und der Konfuzianismus haben Chinesen immerhin seit Jahrtausenden zu Demut und Staatshörigkeit erzogen. «Grundsätzlich sind wir der Ansicht, dass Religion auch etwas Positives ist», sagt Wang Zuoan, Vizedirektor des staatlichen Religionsamtes, «wir haben zum Beispiel viele christliche Modellarbeiter.»

Die Bürokratisierung des Glaubens stösst jedoch immer mehr auf Widerstand. Weil China keine diplomatischen Beziehungen zum Vatikan hat, dürfen Chinas Katholiken offiziell nicht zum Papst beten. Kontakte zum Heiligen Stuhl sind verboten, den vom Vatikan ernannten Bischöfen droht Gefängnis. Millionen Christen sind deshalb mit ihrem Glauben in den Untergrund geflüchtet. Neben den offiziell vier Millionen Katholiken beten etwa acht Millionen heimlich in Hauskirchen. Dazu kommen mehrere Millionen Protestanten, die sich gegen eine Registrierung ihres Glaubens wehren. Allein in der Hauptstadt Peking wird die Zahl der Hauskirchen auf 1000 geschätzt – meist einfache Räume mit ein paar Kerzen und Heiligenbildern. Für Chinas Kommunisten seien sie dennoch «eine Gefahr für die Stabilität», sagt der Religionsbeamte Wang.

Die Kommunisten fürchten das Volk. «Der KP geht es nicht so sehr um die Religion, sondern um die gesellschaftlichen Freiräume, die dadurch entstehen», sagt die Menschenrechtlerin Sophia Woodman. Beim Fall der kommunistischen Regimes in Osteuropa waren es die Kirchen, in denen sich der Widerstand am stärksten organisierte. Im eigenen Land soll die Entwicklung mit allen Mitteln verhindert werden. Egal ob Parteien, unabhängige Gewerkschaften oder religiöse Bewegungen: «Ausserhalb der KP-Hierarchie werden keine unabhängigen Organisationen geduldet», sagt Woodman.

Die Grenze zwischen dem harmlosen Sportverein und der religiösen Kultbewegung ist jedoch schwer zu ziehen.

Jahrelang hatte Peking die von dem selbst ernannten Heilsbringer Li Hongzhi gegründete Falun-Gong-Bewegung als Gesundheitsgruppe gefördert. Die Staatsverlage verkauften Millionen seiner Bücher und Videokassetten, in denen er für seine Mischung aus traditionellen Atemübungen und pseudoreligiösen Versprechen warb. In Falun Gong verbinden sich Teile von Taoismus und Buddhismus mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und vor allem straffer Organisation. Erst als im April vergangenen Jahres 10 000 Falun-Gong-Anhänger den Regierungssitz Zhongnanhai umzingelten, wurde der KP die Macht des Kultes bewusst: Heimlich hatte der mittlerweile in den USA im Exil lebende Li eine Organisation mit Millionen von Anhängern, Gruppenleitern und Führungskräften aufgebaut. Falun Gong sei «die erste proletarische Bewegung seit der Befreiung, die nicht von der Partei kontrolliert wird», sagt der politische Autor Wang Shan.

Dabei steht Falun Gong längst nicht alleine da. Schätzungen zufolge gibt es landesweit mehr als 2000 Kultbewegungen und Heilslehren, manche mit mehrere Millionen Anhängern, die durch den Erwerb von Schriften und Kassetten die Organisation finanzieren. Die meisten sind harmlose Abwandlungen des Qi Gong, der traditionellen chinesischen Atem- und Meditationstechnik. Die Anhänger des Guolin-Qigong treffen sich jeden Morgen im Pekinger Jadeteich-Park, weil sie glauben, mit Atemübungen den Krebs bekämpfen zu können. Andere Bewegungen verfolgen aber auch religiöse Ziele. Allein Huhanpai («Die schreiende Bewegung»), eine 1980 gegründete christliche Sekte, soll über eine halbe Million Anhänger haben.

Über die Staatspresse kündigte Peking nun eine «Säuberung» der Qi-Gong-Gruppen an. Die populäre Zhonggong-Vereinigung («Chinesischer Weg zu Gesundheit und Intelligenz»), die nach eigenen Angaben bis zu 20 Millionen Anhänger zählt, wurde Anfang Februar als «xie jiao» (Teufelskult) eingestuft – was einem Verbot gleichkommt. Mehr als 100 Büros der Bewegung in 20 Provinzen wurden geschlossen. Gründer Zhang Hongbao, der die Bewegung 1988 ins Leben gerufen hat, ist auf der Flucht. Das Vermögen seiner Firma, der Qinlin-Gruppe in der Hafenstadt Tianjin, in Höhe von 50 Millionen Yuan (9,2 Millionen Franken) wurde konfisziert.

Doch die Kommunisten stehen auf verlorenem Posten. Seitdem Kapitalismus, Korruption und Egoismus die Ideale des Sozialismus verdrängt haben, suchen immer mehr Chinesen nach einem höheren Sinn. «Die Menschen haben ihren Glauben verloren. Die Zukunft ist ungewiss, viele verlieren ihre Arbeit», sagt der Pekinger Journalist und Sektenexperte Sima Nan. Vor allem die Alten sind die Verlierer des Systemwandels. Viele müssen mit einer Rente von unter 100 Yuan (19 Franken) auskommen. Die Arztkosten, für die früher der Staat aufkam, können sich die meisten nicht mehr leisten. Ihr Glück suchen sie in den Heilsbewegungen, die Gesundheit und spirituelle Vervollkommnung versprechen.

«Je mehr die Regierung die Anhänger unterdrückt, desto mehr macht sie sie zu Märtyrern», kritisiert Sima Nan. Trotz der landesweiten Kampagne tauchen immer neue Falun-Gong-Anhänger in der Hauptstadt auf. Vor zwei Wochen konnte die Polizei gerade noch verhindern, dass Kultanhänger das grosse Mao-Porträt auf dem Tiananmen-Platz mit einem Bild des Sektengründers Li Hongzhi überdeckten. Pekings Führer werden sich an Chinas Geschichte erinnert fühlen: Das Aufkommen von Propheten und Kultbewegungen war in der Vergangenheit immer ein Anzeichen für den Untergang einer Dynastie. Vor 160 Jahren träumte der Dorflehrer Hong Xiuquan, dass er der Bruder von Jesus sei. Seine «Taiping-Revolution» führte zum Bürgerkrieg und leitete das Ende der Qing-Herrschaft ein.

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