Menschenversuche
Versicherungen machen mit freiwilligen Versuchspersonen Crash-Tests. Damit wollen sie abklären, ob Unfallopfer mit Schleudertrauma Anrecht auf Entschädigung haben.
Ein Unfall, wie er in der Schweiz jedes Jahr zu Tausenden passiert. Rebekka Salomé steht mit ihrem Porsche 911 Carrera vor einer auf Rot stehenden Ampel. Es ist acht Uhr morgens, die Zürcher Beraterin ist auf dem Weg zur Arbeit. Plötzlich rammt ein Jeep von hinten ihren Wagen. Ein Knall in den Ohren, der Oberkörper der jungen Frau wird blitzartig nach vorne geworfen, der langsamer reagierende Kopf nach hinten geschleudert. Beim Aufprall verbeisst sich Rebekka Salomé vier Zähne. Es ist der 30. Juli 1997.
Rebekka Salomé erhält eine ärztliche Diagnose, wie sie in der Schweiz jedes Jahr zu Tausenden gestellt wird: Halswirbelsäulen-Distorsion – besser bekannt als Schleudertrauma. In der Schweiz erleben bei Unfällen jährlich 10’000 Menschen Verletzungen der Halswirbelsäule (HWS).
Die drei Buchstaben sind der reinste Zunder. HWS-Verletzungen sind mit Röntgenaufnahmen und Computer-Tomografie weder zu beweisen noch zu widerlegen. Versicherungen bestreiten oft, dass es bei Auffahrkollisionen zur Überdehnung der Halswirbelsäule gekommen ist. Um zu klären, ob ein Unfall zu den beklagten Beschwerden geführt hat, setzen sie auf eine ethisch und wissenschaftlich fragwürdige Methode – Crash-Tests mit Menschen.
Der deutsche Allianz-Konzern macht keinen Hehl daraus, dass im hauseigenen Technikzentrum in Ismaning bei München lebende Crash-Test-Dummys eingesetzt werden. Auch das Ingenieurbüro Schimmelpfennig + Becke in Münster simuliert Unfälle mit freiwilligen Unfallpassagieren.
Mit lauter Musik aus dem Walkman und einer Augenbinde werden diese von der Aussenwelt abgeschirmt, damit sie sich auf den Aufprall nicht vorbereiten können. Videokameras verfolgen die Bewegungen des Körpers beim Aufprall, Sensoren registrieren Veränderungen der Nackenmuskulatur. Das Aufpralltempo liegt bei 25 Stundenkilometern. Wenn die Personen aus dem Wagen klettern, und es tut ihnen nichts weh, gilt ein Auffahrunfall dieser Geschwindigkeit als ungefährlich. Zu den Kunden des deutschen Büros gehören auch Schweizer Versicherungen.
Rebekka Salomé bekam zwei Jahre nach dem Unfall Post von der Zürich-Versicherung: Die Erstellung eines biomechanischen Gutachtens dränge sich «geradezu auf». Machen soll es Schimmelpfennig + Becke in Münster. Rebekka Salomé fragte nach – und fiel aus allen Wolken: «Die wollten Menschen crashen lassen. Das ist doch pervers.»
Aus Persönlichkeitsgründen, gibt sich die Zürich bedeckt, könne man zu laufenden Versicherungsfällen keine Stellung nehmen. Das Unternehmen bestätigt, dass ein Teil der Gutachten ins Ausland vergeben werde, auch an Schimmelpfennig + Becke. Freiwillige, die den Kopf hinhalten, seien «nie Gegenstand von Gutachtenaufträgen der Zürich», erklärt Kommunikationschef Michael Wiesner: «Die von uns gelieferten Grundlagen werden nur auf der Basis bereits vorhandener Daten und Erkenntnisse ausgewertet.» Also keine Menschenversuche?
Sicher ist nur eins: Die Zürich wäre damit nicht allein. FACTS liegen Dokumente vor, die beweisen, dass Schimmelpfennig + Becke für einen anderen Versicherungskonzern, die Winterthur, einen Crash-Test mit einem «freiwilligen Probanden» durchgeführt hat. Die Testperson sass bei diesem «Versuch» in einem BMW und nahm «eine vergleichbare Sitzhaltung» ein wie jene Person, die im Unfall verletzt wurde. Der auffahrende Opel Omega knallte mit 16,1 Stundenkilometern in den Testwagen – zweimal hintereinander. Beim ersten Versuch «kam es zu einem Versagen des Kopfbeschleunigungs-Aufnehmers während der Crash-Phase». Daher wurde «ein weiterer Versuch» mit «demselben freiwilligen Probanden in unveränderter Sitzhaltung durchgeführt».
Wusste die Winterthur, dass beim nachgestellten Crash eine Testperson im Auto sitzen würde? Sibyllinische Antwort: «Vor der Auftragsvergabe war die Winterthur nicht darüber informiert, dass Probanden zum Einsatz kommen sollten.» Die Winterthur will keine Aufträge zu Nachfahrversuchen erteilt haben, die mit lebendigen Dummys durchzuführen sind. Gleichzeitig hält die Winterthur fest: «Derartige Nachfahrversuche, welche Ingenieurbüros im Ausland mit Probanden für die Winterthur durchführen, sind absolute Einzelfälle.» Widersprüchliche Aussagen.
Die Versicherungen Zürich und Winterthur sind nicht die einzigen, die Schimmelpfennig + Becke mit Aufträgen versorgen. Auch die Helvetia Patria bestätigt, dass man mit dem deutschen Ingenieurbüro zusammenarbeitet, «vor allem auf Grund von Überlastung schweizerischer Experten». Nicht bei allen Crash-Tests, die das deutsche Büro durchführt, sitzen menschliche Versuchskaninchen im Auto. Fabio Schlüchter, Leiter Haftpflicht- und Personenschaden bei der Helvetia Patria: «Wir machen keine Nachfahrversuche mit Personen.»
Seit letztem Jahr lässt die Schweizerische Unfallversicherung (Suva) durch die Arbeitsgruppe für Unfallmechanik in Zürich «biomechanische Kurzberichte» erstellen. «Sie beruhen auf einer technischen Analyse und medizinischen Berichten. Die Suva macht keine Nachfahrversuche, wie sie zum Beispiel in Deutschland gemacht werden», erklärt Rudolf Wipf, Leiter Schadenabteilung bei der Suva. Testpersonen ins Auto zu setzen, hält Wipf «im Einzelfall für unnötig, gar bedenklich – für die wissenschaftliche Forschung sind solche Tests wahrscheinlich legitim».
Legitim? Jedenfalls hält das Luzerner Obergericht in einem Urteil fest, dass die biomechanischen Gutachten als Beweismittel untauglich seien, da sie «im Wesentlichen auf Annahmen» beruhen. Das Bundesgericht hat dieses Urteil in einer Berufung bestätigt.
Menschenversuche im Dienste der Wissenschaft – nur harmlose Experimente? Die Frage ist umstritten. «Verletzungsrisiko ausgeschlossen», meint Allianz-Vorstandsvorsitzender Henning Schulte-Nolte in einem Schreiben an eine Betroffene, die nach den Crash-Versuchen des deutschen Konzerns fragte. Die Tests seien «ausschliesslich im Bereich niedriger Geschwindigkeiten» durchgeführt worden. John Hayek, Neurologe in Zürich, hält dagegen: «Man kann nicht sagen, dass erst ab einer bestimmten Geschwindigkeit Beschwerden entstehen.»
Gleich zwei breit angelegte Testserien mit Freiwilligen hat Schimmelpfennig + Becke durchgeführt. Bei Crash-Tests im Jahr 1997 sassen 19 Personen in den Autos. Die Auffahrkollisionen «erfolgten unter möglichst realistischen Bedingungen», wie schriftlich vorliegenden Ausführungen zur Studie zu entnehmen ist.
Zu den Testpersonen gehörte Ute Schmücker aus Münster. «Der Stoss war schon heftig», erzählt die deutsche Physiotherapeutin: «Als ich ausstieg, waren meine Beine wie Pudding.» Unter Medizinern und Juristen sind die Tests umstritten. «Die Versicherungen fahren eine Abwehrstrategie», erklärt Anwalt Herbert Schober: «Man muss mit dem Kopf unter dem Arm kommen, bevor sie zahlen.» Um angeblichen Simulanten auf die Schliche zu kommen, schicken Versicherungen auch Detektive auf die Pirsch, «um zu schauen, wie die Leute leben», weiss Schober. Einer seiner Klienten wurde bis ins Feriendomizil in Miami verfolgt. «Er rief mich an, weil ein komischer Typ hinter ihm herlief.»
Die Zürich hat die Zahlungen an Rebekka Salomé eingestellt. Ihr Fall füllt mittlerweile sechs Bundesordner. In den nächsten Wochen wird ihr Anwalt Klage gegen die Zürich-Versicherung einreichen, wie er gegenüber FACTS erklärt: «Die Zürich hat mich dazu aufgefordert – so etwas habe ich noch nie erlebt.»