Lachsrosa Zukunft

Lachsrosa Zukunft

Chefredaktor Andrew Gowers will mit der deutschen «Financial Times» die Leser zu Gewinnern machen.

Andrew Gowers beschreibt seine ersten Erfahrungen in Deutschland wie Szenen aus einem Gruselkabinett. Anfang der Achtzigerjahre arbeitete der Brite als Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Deutschland und sah Erschütterndes: «Richtigen Wirtschaftsjournalismus gab es nicht, Aktien waren verpönt, und in den Grossunternehmen herrschte die gleiche Beamtenmentalität wie beim Staat.»

Es war die hohe Zeit des gemütlichen rheinischen Kapitalismus, von dem sich die Deutschen nach Gowers’ Überzeugung verabschieden müssen. Deshalb hält der 42-jährige Journalist das Land reif für das ehrgeizigste Zeitungsprojekt der deutschen Nachkriegsgeschichte: eine eigenständige deutsche Ausgabe der ehrwürdigen «Financial Times». Sie kommt nächsten Montag als «Financial Times Deutschland» (FTD) mit einer Startauflage von 50 000 Exemplaren auf den Markt, Chefredaktor: Andrew Gowers.

Finanziert wird das Experiment von der «Financial Times»-Mutter Pearson und vom Hamburger Verlag Gruner & Jahr, die zusammen fast 300 Millionen Mark investieren. Damit hat die Redaktion vier bis fünf Jahre Zeit, eine Auflage von 120 000 Stück und die schwarzen Zahlen zu erreichen.

Die FTD will eine Zeitung der Superlative werden: das schnellste, das seriöseste und das exklusivste Blatt im deutschen Sprachraum. Mit dem englischen Original hat es nur zwei Gemeinsamkeiten: das lachsfarbene Papier – sowie den Shareholdervalue, dem die 130 FTD-Journalisten dienen müssen.

Was diese totale Identifikation mit dem Kapital-Credo im journalistischen Alltag bedeutet, steht im «Mission Statement» von Chefredaktor Gowers. Da der Markt im Prinzip immer Recht habe, müsse die FTD den Nachrichtenstrom stets auf die Folgen für die Investoren prüfen und den Lesern erklären, was dem Markt nutze und schade: «Wenn wir überzeugt sind, dass das Management eines Unternehmens Fehler gemacht hat oder die Märkte in die falsche Richtung tappen, dann werden wir das schreiben.»

Ganz ähnlich steht es auch im Kodex des britischen Originals: Die «Financial Times» druckt alles, «was unseren Lesern nutzt, um Geld zu verdienen – oder ihnen hilft, Verluste zu vermeiden».

Die Erwartungen an die FTD sind gewaltig, weil Verlag und Redaktion seit Monaten die Neuerfindung des deutschen Journalismus ankünden. Gruner-&-Jahr-Zeitungschef Bernd Kundrun verspricht das «ambitionierteste Zeitungsprojekt seit der Lizenzierung deutscher Tageszeitungen vor fünfzig Jahren». Und Chefredaktor Andrew Gowers redet von einer völlig neuen Art des deutschen Tageszeitungsjournalismus, orientiert am angelsächsischen Vorbild.

Deshalb schickte der Brite die FTD-Mannschaft in Schulungskurse und liess sie fast 50 Nullnummern produzieren, bis auch der Letzte begriffen hatte, was Gowers mit seinem «Erklärungsparagrafen» meinte: Möglichst im zweiten, spätestens im dritten Absatz müssen die FTD-Journalisten den Lesern die Konsequenzen der Nachrichten für Investoren und Märkte erklären.

Ebenso ungewohnt wie der «Erklärungsparagraf» war für viele FTD-Neulinge auch der gnadenlose Zwang zur Kürze. Da der idealtypische FTD-Leser ein gestresster «Entscheidungsträger» ist, soll er in möglichst kurzer Zeit alle wichtigen Informationen und Einschätzungen erfahren, die er für seine Entscheidungen braucht. «Lieber Leser, Sie haben Wichtigeres zu tun, als Zeitung zu lesen», heisst Gowers’ Parole. Für schnelle Leser hält er eine «Kompaktseite» bereit. Dort stehen nicht nur alle wichtigen Meldungen in Kurzform, sondern auch die Schlussfolgerungen aller Kommentare der Meinungsseite. Ob der deutsche Markt wirklich reif ist für eine zweite Wirtschaftszeitung, ist unter Experten umstritten. Es wäre nach dem Start der linksalternativen «Tageszeitung» (taz) vor zwanzig Jahren erst die zweite erfolgreiche Neugründung einer Tageszeitung seit 1949.

Mit der taz will die FTD natürlich auf keinen Fall verglichen werden. Dennoch sind die Parallelen unübersehbar: Wie sich die taz vor zwanzig Jahren als Zentralorgan des damaligen antiautoritären Aufbruches durchsetzte, ist heute die FTD-Gründung Ausdruck eines neuen Trends, der in Deutschland mit dem Börsengang der Telekom vor drei Jahren anfing. Die so genannte T-Aktie geriet rasch in den Ruf einer Volksaktie, deren Kurs sich seither fast verdreifacht hat.

Der anhaltende Börsenboom hat inzwischen sogar die «Bild-Zeitung» erreicht, die ihre Leser neuerdings mit geradezu rührender Naivität über das Einmaleins der Börse aufklärt. «Steigen die Aktien-Kurse über eine längere Zeit, heisst das Hausse (gesprochen Osse). Das Gegenteil nennen die Anleger Baisse (Bässe).» Dahinter steht die neue massenhafte Gier nach dem schnellen Geld, die kürzlich die linke taz auf den Punkt brachte: «Aktien sind sexy.»

Kein Wunder also, dass allein die Ankündigung der FTD-Gründung in der Branche hektische Aktivitäten auslöste. Die überregionalen Tageszeitungen bauten ihre Wirtschaftsredaktionen aus, das behäbige «Handelsblatt» – direkter Konkurrent der FTD – reagierte mit einem bunten Relaunch, und alle grossen Verlage kündigten in den letzten Monaten neue Wirtschaftspublikationen an.

Die Branche ist von einer beispiellosen Goldgräber-Stimmung erfasst, die nur noch ein gewaltiger Börsencrash brechen könnte. Je mehr die Deutschen Aktien kaufen, so die Faustformel der Verlage, desto grösser wird ihr Hunger nach Informationen, Analysen und Tipps.

Selbst das «Handelsblatt» sieht deshalb dem Ende seines Monopols als Wirtschafts-Tageszeitung gelassen entgegen. Konkurrenz belebe das Geschäft, meint der stellvertretende Chefredaktor Bernd Ziesemer. Er sieht «Platz für alle, weil heute alle wachsen können».

Das sind Indizien, die Gowers in seiner Analyse bestätigen. Der Brite ist davon überzeugt, dass Deutschland vor einem Paradigmenwechsel steht, der nach einer neuen Zeitung rufe. Denn mehr und mehr werde auch den Deutschen klar, dass «die alten Strukturen dem Veränderungsdruck nicht standhalten», dass etwa auf die staatliche Rentenversicherung nicht mehr Verlass sei und dass die Politik «unter einem Handlungszwang steht, der von den Erwartungen der Finanzmärkte diktiert wird».

Goldgräber wie Andrew Gowers sehen Deutschland deshalb erst am Anfang einer Entwicklung, die Traumgewinne verspricht. Zur Illustration vergleicht der Brite die deutschen gerne mit den US-amerikanischen Indikatoren. Sein Fazit lässt die Zuhörer schwindlig werden: Während in den USA 40 Prozent der Haushalte Aktien haben, sind es in Deutschland erst 8 Prozent. Aus dem Rückstand errechnet Gowers für deutsche Wirtschafts-Tageszeitungen ein Auflagenpotenzial von mindestens 600 000 Stück – 350 000 mehr als «Handelsblatt» und eine erfolgreiche FTD zusammen.

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