Kamikaze-Bomber – Kollektive Trauerarbeit

Kamikaze Bomber

Schluss mit der Spassgesellschaft und der postmodernen Beliebigkeit: Der Terror in den USA löst in der Schweiz die moralische Mobilmachung aus.

Die Kamikaze-Bomber explodierten in New York und Washington D. C., und die Schockwellen erschütterten auch das Zürcher Rotlichtquartier. Als am Dienstag letzter Woche die beiden World-Trade-Center-Türme und das Pentagon in Flammen standen, war an der Türe von «Bunny’s Bar» im Zürcher Vergnügungsviertel Kreis vier zu lesen: «Wir bleiben heute Abend aus Protest gegen den Terror geschlossen.»
Die Spassgesellschaft stand in den Tagen des Schreckens still. Barmaid, Büezer, Banker übten sich gleichermassen in Ernsthaftigkeit, und das Schweizer Volk erinnerte sich wieder an die Religion: «Nach der Katastrophe in Amerika sassen Leute in den Kirchenbänken, die man üblicherweise dort nie zu sehen bekommt», sagt Agnell Rickenmann, Generalsekretär der Schweizerischen Bischofskonferenz.
Ein moralischer Ruck geht durch das Land, die Schweizer Bevölkerung sucht Zuflucht in Ritualen des Bedeutungsvollen: In Zürich-Schwamendingen reichten sich 700 Leute die Hand zur Menschenkette; in Bern platzierten Einheimische vor den Mauern der US-Botschaft Blumenbouquets und ihre übrig gebliebenen roten 1.-August-Kerzen; und im «Blick» war John Lennons Friedenshymne «Imagine» abgedruckt – die nationale Boulevardzeitung machte auf Pfarrblatt.
Die Welt werde nie wieder sein wie zuvor, hiess es nach dem Terrorschock allenthalben. Und die Schweiz? Ist es vorbei mit der postmodernen Beliebigkeit? Kommt die Wende zu einer neuen Ernsthaftigkeit? Heisst es vielleicht: fertig lustig?
Fest steht, dass sich in den letzten Tagen kaum jemand der totalen Trauer entziehen konnte: Benommenheit und Betroffenheit auf allen Kanälen, eine unvergleichliche Globalisierung der Gefühle. Wie ein Virus kursierte von Handy zu Handy die SMS-Meldung: «Heute Abend stellen wir eine Kerze ins Fenster als Zeichen unserer Solidarität gegen den Terrorismus.» Ins Gewissen der moralisch Trägen zielten Ketten-E-Mails mit der Aufforderung, auf eigens eingerichteten Trauer-Pages zu kondolieren.
Im Zuge der transnationalen Buss- und Betrituale besann sich die Schweiz auf christlich-abendländische Traditionen. Das Zürcher Stadtparlament verlas einige Zeilen von Franz von Assisi, einem leuchtenden Beispiel tätiger Nächstenliebe. Die Schweizer Bankiers beliessen es nicht bloss bei Worten, sondern überwiesen nach einem Treffen in Lugano acht Millionen Franken für New York. Und «SonntagsBlick»-Kolumnist Fibo Deutsch nutzte gar die Gunst der schweren Stunde, um für das Organspenden im Allgemeinen zu werben. So viel Solidarität geht an die Nieren.
Die Schweiz gab sich so lange so cool. Doch jetzt zeigt sie wieder Emotionen – und mit Trauertränen in den Augen fürchten die Menschen auch um sich selber: Erstmals seit Ende des Kalten Kriegs fühlt sich das Land vital bedroht. Hiesige Militärexperten diskutieren, ob die AKWs im Mittelland gegen einen Luftangriff mit entführten Passagiermaschinen resistent seien. Oder was geschähe, wenn ein ideologisch irregeleiteter Hijacker Kurs auf die Grande-Dixence-Stauanlage nähme. Schreckensszenarien, die wieder wahrscheinlich scheinen – obwohl man sie spätestens nach dem Untergang des Ostblocks für Geschichte hielt.
Wer noch gegen den gesamteuropäischen Strom von Mitgefühl und Kriegserregtheit anzuschwimmen wagt, gerät schnell unter Zynismusverdacht – wie der deutsche Satiriker Wiglaf Droste, der nach den Anschlägen angesichts des angeblichen Kriegs der Zivilisationen mit der Frage provozierte: «Was ist Zivilisation? Wer repräsentiert sie? George Bush, dem die rechte Hand vom Unterzeichnen von Todesurteilen lahmt?»
Läuft die Terror-Trauer tatsächlich Gefahr, in einen Trauer-Terror zu münden? Wer in dieser Schweiz im Herbst vom Wege der Betroffenen abweicht, muss zumindest mit moralisierender Massregelung rechnen: Der Organspende-Lobbyist Fibo Deutsch wetterte rabiat wider die Abweichler, die es während der landesweit angeratenen Drei-Minuten-Schweigefrist wagten, ihr Mittagessen einzunehmen. FDP-Präsident Gerold Bührer gab im TV den ideologischen Tarif durch: «Es gibt keine Gesinnungsneutralität mehr.» Und der deutsche Innenminister Otto Schily sprach nicht nur für sein Land, sondern gleich noch für alle Nachbarn, als er erklärte, für wen denn nun Partei zu nehmen sei: «Es ist eine moralische und ethische Pflicht Europas, die USA in diesem Kampf zu unterstützen.»
Eine neue Übersichtlichkeit droht, die nur noch Gut und Böse kennt. Die blind ist für die Zwischentöne. Man ist für Amerika – oder man ist gegen Amerika. So einfach sagte es die New-Yorker Senatorin Hillary Clinton, kaum lagen die Symbole amerikanischer Macht und Potenz in Schutt und Asche. Und so einfach soll es sein.
Das kann an der Schweiz nicht spurlos vorübergehen; über die tatsächlichen Folgen auf das sozialpsychologische Klima sind sich die Experten allerdings uneins. Düsteres sieht der Basler Philosoph Hans Saner voraus: «Auch unserem Land droht die Gefahr einer neuen Ideologisierung. Die Fronten zwischen Freund und Feind werden wieder klar abgesteckt.» Die sich abzeichnende Polarisierung, befürchtet Saner, werde zu einer Kultur der Intoleranz führen: «Wer sich dem Populärkonsens verweigert, könnte wieder ausgegrenzt, verdächtigt, wenn nicht gar observiert werden.» Das erinnert an die dunklen Siebziger, da schnüffelnde Dorfpolizisten, ohrfeigende Schulmeister, beinharte Rechtspolitiker und feldgrüne Kalte Krieger in einer grimmigen Koalition vereint waren.
Die beredte Neulancierung eherner Werte des Westens – Freiheit, Selbstverantwortung, Liberalität – macht Saner eher misstrauisch: «Darin wird die eigene Identität über ein Feindbild definiert. Denn was man für sich an Tugenden und Werten in Anspruch nimmt, das spricht man dem angeblichen Gegner, dem Islam oder der anderen Kultur, ab.»
Über 200’000 Muslime leben in der Schweiz. Wer, wenn nicht sie, sollte tatsächlich Angst haben? Ismail Amin, Präsident der Vereinigung islamischer Organisationen in Zürich, sah sich angesichts der kollektiven Empörung über die teuflischen Muslim-Fanatiker genötigt, von der Schweiz «Fairness» zu verlangen, «so dass nicht einfach der Islam verantwortlich gemacht wird». Das sei das «Minimum».
Zuversichtlich, was dieses eingeforderte gesellschaftliche Fairplay anbelangt, ist Thomas Kessler, Delegierter für Migration des Kantons Basel-Stadt: «Primitives Stammtischgerede wird sich in unserem Land nicht durchsetzen. Die Rationalisierung der Ereignisse ist in vollem Gange.» Der Experte für Integrationsfragen sieht das Prinzip der Multikulturalität in der Schweiz nicht in Gefahr: «In diesem Land ist die Vernunftenergie stärker als der Irrationalismus und plumpe Hassgefühle.»
Die Zürcher Juristin Ellen Ringier, eine engagierte Anti-Rassismus-Kämpferin, glaubt gar, dass dieser 11. September auch Chancen birgt und eine Denkpause möglich machen könnte. «In der Gesellschaft des anything goes wurde kaum Zeit darauf verwendet, sich über die elementare Frage der Sinnstiftung in unserem Leben Gedanken zu machen.» Falls in der grauenhaften Tat überhaupt ein Sinn liege, dann der, «dass wir zur Besinnung kommen». Ringier meint damit nicht das Entfachen von Kerzen, sondern «ein Überdenken der Nahost-Politik als Ganzes».
Dem Denken kommen die Emotionen in die Quere. Seit dem Touristenmassaker von Luxor, seit dem Swissair-Crash in Halifax, seit Lady Dis Unfalltod in einem Pariser Strassentunnel kommt es immer wieder zu kollektiven Trauerschüben – sie sind medial gebündelt und weltumspannend synchronisiert. Diese Gefühlsschablone bietet einer Gesellschaft Hilfe, die als Ganze üblicherweise höchstens einem verlorenen Länderspiel nachtrauert.
Das universale Mitgefühl gehorcht allerdings merkwürdigen Gesetzen. Vor zehn Jahren forderte ein Horror-Zyklon in Bangladesch 140’000 Tote, erst zwei Jahre ist es her, dass in Venezuela 30’000 Menschen in Schlammfluten umkamen, und ebenfalls 1999 kostete ein Erdbeben in der Türkei 17’000 Menschenleben. Doch keiner dieser Katastrophen wurde hier zu Lande mit   einer Menschenkette oder einer einzigen Trauerminute gedacht. Fand die verheerende Überschwemmung in Moçambique letztes Jahr statt – oder diesen Frühling? Sorry, schon vergessen! Und im Sudan verhungert ein Kind ums andere, doch keiner stellt ein Licht ins Fenster.
Der Winterthurer Schriftsteller Peter Stamm, wie viele seiner Kollegen nach den Attentaten als Welterklärer und Sinnstifter stark nachgefragt, schrieb in der Gratiszeitung «Metropol»: «Als 1994 fast 800’000 Tutsi von Hutu-Milizen umgebracht wurden, sprach kein Mensch vom Beginn einer neuen Zeitrechnung.»
Auch wenn die Welt nach New York und Washington tatsächlich eine andere sein sollte, so gibt es doch eine Kontinuität: die befremdliche Mixtur aus Ohnmacht, Trauer, Kitsch und Business.
Amerikas Radiostationen und auch CNN, wenn der TV-Sender seinem Publikum zwischendurch denn eine ruhige Minute gönnt, spielten zu den Bildern der Zerstörung immer wieder dasselbe Lied: «Only Time» von der irischen Sängerin Enya. Eingemixt in die Ballade sind Stimmen von Original-Betroffenen: Opfern, CNN-Reportern, Präsident Bush. Die rund 5000 Tote fordernden Attentate katapultierten den Song in die Playlists.
Der neue Trauerhit wird sicherlich auch in «Bunny’s Bar» im Zürcher Vergnügungsviertel zu hören sein.

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