Hochspannung
Die kommende Strom-Liberalisierung elektrisiert eine ganze Branche. Die Grosskunden werden umworben, die Kleinen zahlen.
Im süddeutschen Wyhlen, unmittelbar an der Schweizer Grenze, verkündeten die Kraftübertragungswerke Rheinfelden (KWR) am 16. Dezember einen eigenartigen Handel. Die KWR haben ihre 5-Prozent-Beteiligung am Atomkraftwerk Leibstadt an die Schweizer Watt AG verkauft – für minus 120 Millionen Franken.
Minus 120 Millionen? Genau. Die KWR zahlten 120 Millionen, damit sie das Paket überhaupt loswurden. Und machten damit noch ein gutes Geschäft. Denn so hat sich die deutsche Gesellschaft freigekauft von künftigen Riesenverlusten des neusten Schweizer AKW. Am gleichen Tag, wenige Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Rheins: Die Kernkraftwerk Leibstadt AG (KKL) verspricht das Blaue vom Himmel herunter und will von Verlusten nichts wissen. Das AKW Leibstadt, seit 15 Jahren in Betrieb, produziere immer günstiger und werde «zunehmend konkurrenzfähig».
Was wie ein unauflöslicher Widerspruch tönt, ist in Wahrheit nur eine Frage des Standorts. Die KWR verkaufen ihren Strom im seit Sommer 1999 völlig liberalisierten deutschen Markt. Dort besteht überhaupt keine Chance, den teuren Atomstrom aus Leibstadt kostendeckend abzusetzen.
Ganz anders die KKL. In der Schweiz darf mit der Strommarktöffnung, voraussichtlich ab 2001, nur die Grossindustrie ihren Strom kaufen, wo sie will, also wo er am billigsten ist. Erst ab 2007, so siehts der Bundesrat vor, dürfen in der Schweiz sämtliche Kunden ihren Stromlieferanten frei wählen. Bis dahin können die Elektrizitätswerke die milliardenschweren Kosten unrentabler AKW, zu teuer produzierender Wasserkraftwerke und überrissener Lieferverträge aus dem Ausland bequem auf die Haushalte abwälzen.
Trotzdem verkündet der Chef der Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK), Peter Wiederkehr, frisch-fröhlich: «Jetzt wird der Kunde König und der Preis entscheidend.» Damit räumt er immerhin unfreiwillig ein, dass bisher die Strombosse die Könige waren. Ihre Unternehmen hatten faktisch eine Lizenz zum Gelddrucken. Die Kosten der Stromproduktion, so hoch sie auch waren, wurden einfach den Strombezügern in Rechnung gestellt. Die Kunden mussten bezahlen – oder der Strom wurde ihnen abgestellt.
Mit der geplanten Öffnung des Strommarktes folgt die Schweiz der Liberalisierung in der Europäischen Union. Das Nichtmitgliedland Schweiz vollzieht diesen Schritt autonom – oder wie es wohl korrekter heissen müsste: automatisch – nach. Wie die EU knackt die Schweiz das Strommonopol schrittweise. Allerdings haben einige EU-Länder ein deutlich forscheres Tempo angeschlagen. So ist der Markt in Grossbritannien, Skandinavien und seit Mitte 1999 auch im Nachbarland Deutschland voll liberalisiert.
Von einem solchen Tempo will der Dachverband der Strombranche, der Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke (VSE), nichts wissen. VSE-Präsident Jacques Rognon fordert eine «vernünftige Öffnung» und einen «realistischen Öffnungsrhythmus». Und meint damit eine möglichst langsame Liberalisierung. Damit genug Zeit bleibt, um Altlasten zu entsorgen. Die Branche hat schon fleissig damit begonnen. Die Centralschweizerischen Kraftwerke (CKW) in Luzern schreiben fürs laufende Jahr 250 Millionen Franken ab, das sind 10 Prozent des Anlagevermögens oder fast die Hälfte des Jahresumsatzes. Mit solchen Radikalschnitten wird noch vor der Marktöffnung der Buchwert für Anlagen und Beteiligungen herabgesetzt, die im freien Strommarkt nicht mehr amortisiert werden könnten.
Ähnliche Abschreiber hatten 1999 schon Atel (600 Mio.), EG Laufenburg (450 Mio.) und die NOK (140 Mio. für 1998) getätigt. Die Zeche zahlen die Stromkunden.
Doch nicht die ganze Strombranche will gebremst in den freien Strommarkt. «Ich bin für eine schnelle Öffnung», sagte Watt-Geschäftsleiter Hans Kuntzemüller kürzlich an einer VSE-Tagung in Zürich. Der Markt warte sowieso nicht auf das Strommarktgesetz, erklärte er. Zumindest Grosskunden werden heute schon heftig umworben und erhalten Rabatte von 25 bis 30 Prozent. Die Berner Migros-Zentrale in Schönbühl zum Beispiel zahlt den Bernischen Kraftwerken (BKW) seit 1999 für die gleiche Menge Strom nur noch 1,5 statt 2 Millionen Franken jährlich.
Und obwohl der Markt noch nicht geöffnet ist, werden Rabatte auch ausserhalb des Monopol-Verbreitungsgebietes gewährt. Nötig ist ein – legaler – Trick. So zahlen die BKW schon heute dem Berner Inselspital mehrere hunderttausend Franken pro Jahr, obwohl der Strom vom städtischen EWB geliefert wird. Doch das Inselspital hat sich verpflichtet, sofort nach Marktöffnung zur BKW als neuen Stromlieferantin zu wechseln.
Solche Zahlungen an künftige Grosskunden seien in der Strombranche «gang und gäbe», sagt BKW-Geschäftsleitungsmitglied Martin Pfisterer, «das ist für uns eine Vorinvestition in den Markt.» Dies gehe nicht etwa zu Lasten der Kleinkunden. Vielmehr würden solche Zahlungen aus dem neu aufgebauten internationalen Stromhandelsgeschäft finanziert, erklärt der BKW-Mann.
Die Strombranche ist zurzeit wie elektrisiert. Zusammenschlüsse und Kooperationen sind an der Tagesordnung. Für Experten ist sicher, dass von den rund 1000 Stromunternehmen des Landes, von der grossen NOK bis zu Kleinstwerken in Gemeindebesitz, längerfristig nur einige Dutzend überleben werden. Die Konzentration hat schon begonnen, wie ein Rückblick auf die letzten Wochen zeigt:
24. November: Die Nordostschweizerischen Kraftwerke gründen mit fünf kantonalen Elektrizitätswerken die Handelsgesellschaft Axpo. Damit sollen zunächst Grosskunden betreut und gewonnen werden. Später wird der Massenmarkt mit grossen Werbekampagnen angepeilt.
7. Dezember: Die EG Laufenburg, einer der grössten Stromhändler der Schweiz, gründet mit sechs weiteren Elektrizitätsunternehmen das Joint Venture Etrans. Damit wird die Stromübertragung vom Handelsgeschäft getrennt.
10. Dezember: Die Schweizerischen Bundesbahnen wollen aus Kostengründen ihre elf Kraftwerke verkaufen; sie verursachen jährlich Defizite von 40 bis 60 Millionen Franken. Bis im Sommer dieses Jahres, rechtzeitig vor der Strommarktöffnung, soll über den Verkauf definitiv entschieden werden.
15. Dezember: Die Kraftwerke Oberhasli geben den Verzicht auf ihr Drei-Milliarden-Projekt Grimsel West bekannt. Es wäre fraglich gewesen, sagt die Berner Energiedirektorin Dori Schaer (SP), ob der Grimsel-West-Strom im freien Markt je hätte zum Selbstkostenpreis verkauft werden können.
20. Dezember: Die Interessengemeinschaft der Schweizer Stadtwerke gründet eine gemeinsame Verkaufsgesellschaft. Die neue Energie AG, ihr gehören die Elektrizitätswerke aller grösseren Städte an, will vor allem Grosskunden behalten oder gewinnen.
1. Januar 2000: Die Bündner Stromwirtschaft schliesst sich zur Rätia Energie AG zusammen. 40 von rund 250 Arbeitsplätzen werden abgebaut. Der Kanton Graubünden und die beteiligten Stromgesellschaften erhoffen sich durch den Zusammenschluss bessere Chancen auf dem freien Strommarkt.
Dabei ist noch nicht einmal klar, wann genau der Strommarkt wie geöffnet wird. Das Parlament berät erst ab kommendem März über den Vorschlag des Bundesrates. Das Tempo der Marktöffnung ist höchst umstritten. Und die Fronten verlaufen quer durch die Parteien, am augenfälligsten bei der SP. Die Basis votierte am Parteitag vom 29. Mai 1999 in Neuenburg gänzlich gegen die Strommarkt-Liberalisierung. Bundesrat Moritz Leuenberger will mit der Mehrheit der SP-Fraktion den Markt schrittweise öffnen. Und Leute wie Atomkritiker Rudolf Rechsteiner, Preisüberwacher Werner Marti und Konsumentenschützerin Simonetta Sommaruga wollen sofort liberalisieren.
«Jede Verzögerung geht zu Lasten des Konsumenten», sagt Werner Marti, «und jede Beschleunigung geht zu Lasten der Arbeitsplätze.» Deshalb brauche es eine rasche Öffnung mit flankierenden Massnahmen. Konkret will eine Koalition von Umweltschützern und Gebirgskantonen erreichen, dass die Wasserkraft bei einer schnellen Marktöffnung mit staatlichen Geldern, gewonnen aus einer neuen Energieabgabe auf Atomstrom und Heizöl, gestützt wird. Denn sonst, so befürchten die Gebirgskantone, sind vor allem neuere Wasserkraftwerke, die teuren Strom herstellen, nicht konkurrenzfähig.
«Das Marketing wird über Erfolg oder Misserfolg entscheiden», sagt NOK-Chef Peter Wiederkehr. Dies zeigt die Werbeschlacht in Deutschland. Der unsichtbare Strom, der aus der Steckdose kommt, wird dort je nach Anbieter als gelb (Yello), blau (RWE), weissblau (Bayernwerk), dunkelrot (Preussen-Elektra) oder grün (Ökoanbieter) angepriesen. Wer als Kunde dereinst seinen Stromlieferer wechseln will, muss sich allerdings durch einen wahren Dschungel von Angeboten kämpfen. Ähnlich wie in der liberalisierten Telekommunikation ist es nicht leicht zu erkennen, bei welchem Anbieter der Kunde am besten wegkommt. Wer viel Strom braucht, profitiert von hohen Grundgebühren und tiefen Strompreisen – genau umgekehrt ist es, wenn man wenig Strom bezieht.
Anderen wiederum ist wichtig, welche Zusatzleistungen eine Stromfirma anbietet, zum Beispiel Bestellmöglichkeiten oder Tipps zum Stromsparen. Wem das alles zu kompliziert ist – macht nichts. Von der Liberalisierung profitiert auch, wer bei seinem alten Elektrizitätswerk bleibt. Denn wie die Telekom-Liberalisierung zeigt, sinken die Preise generell, auch bei den Ex-Monopolisten. Am stärksten und schnellsten sinken die Strompreise für die Industrie (rund 30 Prozent), das Gewerbe und mittlere Verbraucher dürfen mittelfristig auf bis zu 20 Prozent Rabatt hoffen. Für Haushaltkunden dürfte der Strompreis erst in einigen Jahren und kaum um mehr als 10 Prozent sinken.
Aber der Preis ist für Kleinkunden sowieso nicht allein entscheidend. Ebenso wichtig, dies ergab eine Studie von PricewaterhouseCoopers, ist das Image des Stromanbieters. Eine starke Marke findet einfacher neue Kunden und senkt die Preise. Strom ist Strom, das war einmal. Strom, das wird die künftige Werbebotschaft sein, ist ein trendiges Markenprodukt, das Spass macht. Strom ist sexy.