Grabesunruhe – Er ist der Experte für Gebeine und Gräber
Er ist der Experte für Gebeine und Gräber. In 34 Dienstjahren hat der Exhumator Roger Webber eine halbe Million Leichen umgebettet.
Nach 66 Jahren ewiger Ruhe muss Äbtissin Mary Margaret ihre Gruft räumen. Das anglikanische Konvent House of Passion braucht die Kapelle, in der die sterblichen Überreste seiner Gründerin weilen, für andere Zwecke: Die Schwestern erweitern ihr Sterbehospiz. Bevor Mary Margaret auf einem nahe gelegenen Friedhof zum zweiten Mal zur ewigen Ruhe gebettet wird, legt Roger Webber Hand an. Mit einer Kreissäge öffnet er die in den Steinboden eingelassene Gruft. Sorgfältig sammelt er von Hand alle Knochen und Knöchelchen aus dem Staub und steckt sie in einen schwarzen Plastiksack, extrastark.
Die Umbettung der Äbtissin ist für Webber Routine. 500 000 Exhumierungen in 34 Dienstjahren, im Schnitt 40 pro Tag, machen ihn wohl zum erfahrensten Exhumator der Erde.
Die Fähigkeiten des 55-Jährigen sind begehrt. Keiner greift so oft zu Schaufel oder Bagger, wenn irgendwo im Vereinigten Königreich ein alter Friedhof einer Strasse oder einem Neubau weichen muss. Auch Wissenschaftler bedienen sich seiner Fertigkeit. Für Biologen auf Virenjagd birgt er Leichen aus arktischem Permafrost, Archäologen können dank ihm viel mehr Gebeine und Gräber untersuchen, als es sonst möglich wäre.
Es war im Frühling 1965, als aus dem Leichenwagenfahrer-Lehrling Webber der Exhumator Webber wurde. Sein damaliger Arbeitgeber, das Bestattungsunternehmen Fred W. Paine, besass eine komplementär wirkende Tochterfirma – The Necropolis Company: ein fünfköpfiges Team, das die Reste von Menschen ausgrub, die vor Jahrzehnten und Jahrhunderten an heute störenden Stellen beerdigt wurden. Bevor die Necropolis-Crew geschlossen in Pension ging, kürte sie Webber zum alleinigen Nachfolger. Heute, nach 34 Jahren, ist Webber eins mit seinem Beruf, seine Persönlichkeit durchdrungen von den Maximen Pietät und Diskretion. Sogar die kräftigen Muskeln, eine Folge der anstrengenden Arbeit, wirken würdig und diskret. Erzählt er von jenem Hund, der seiner Herrin eine gut erhaltene, von den Jahrzehnten geschwärzte Kinderleiche aus einer zerstörten Gruft apportierte, bleibt seine Stimme sonor und ruhig wie immer.
Damals, im Alter von 21 Jahren, war es die spannende Aufgabe, die ihn reizte: «Ich bewarb mich, weil ich die Arbeit interessant fand und viel reisen konnte.» Das Interesse ist in all den Jahren nicht geschwunden: «Es ist spannend, eine Gruft zu betreten, in der 250 Jahre lang niemand mehr war.» Darum versteht er auch die Neugier an seinem Beruf. Fragen über seine Arbeit beantwortet er gern. «Die drastischen Details lasse ich aber weg.»
Es ist kein Zufall, dass der vermutliche Exhumierungs-Rekordhalter in Grossbritannien wirkt. Hier sind die Gesetze zum Schutz der Grabesruhe besonders streng, und sie bleiben nicht toter Buchstabe. Jedes Grab, das auch nur flüchtig verletzt wird, muss exhumiert werden. Eine Wiederverwendung von Gräbern, in vielen Ländern gängige Praxis, ist nicht erlaubt. Besonders London ist voll von alten Friedhöfen, da im letzten Jahrhundert immer wieder neue Gottesäcker angelegt werden mussten. Heute ist das blockierter Platz und blockiertes Geld.
Bevor Webber den Lebenden auf einem Gräberfeld den Platz frei räumen kann, muss er mit seinem einzigen Arbeitskollegen und Chef bei Necropolis, David Jenkins, einen aufwändigen Papierkrieg erledigen. Liegen die Gebeine in anglikanischer Erde, brauchts eine «pastorale Erlaubnis» des Bischofs, sonst muss das Innenministerium die Bewilligung erteilen, manchmal sogar beide.
Liegt der behördliche oder kirchliche Segen vor, sorgt Webber zuerst für die unerlässliche Diskretion: Er errichtet einen hohen Bretterzaun, um auch die neugierigsten Blicke fern zu halten: «Eine Exhumierung zieht immer Schaulustige an.» Dabei gibt es meist nicht viel zu sehen. Ein Friedhof, auf dem Webber wirkt, unterscheidet sich kaum von einer Baustelle. Manchmal trifft Grossbaustelle als Vergleich besser. Als im Norden Londons ein Teil eines Friedhofs überbaut werden sollte, mussten 15 000 Gebeine in andere Friedhöfe verlegt werden. Begraben auf einer Fläche so gross wie drei Fussballfelder. Kein Platz für einen einzelnen Mann mit Schaufel. In solchen Fällen greift Necropolis auf Bagger und angeheuerte Hilfskräfte zurück. Vor der Grabung legt Webber mit Schnur einen engen Raster übers Gelände, damit nach der Umbettung jedes Gebein an seinen alten Ort zurückverfolgt und bei Nachfragen identifiziert werden kann. Danach prüfen die Arbeiter mit einer Sondiergrabung, in welcher Tiefe sie fündig werden. Erst dann fährt Webber mit dem Bagger auf und kratzt vorsichtig die erste Schicht ab, um die Überreste freizulegen. Jedes Gebein wird von Hand in den schwarzen Sack gelegt, Sargteile und Eheringe gehen mit auf die Reise. Oft sind die Knochen so durcheinander, dass Webber und seine Helfer nur nach der Regel «pro Sack ein Schädel und ein paar Knochen» einpacken können.
Nachts wird die Grabungsstelle bewacht, um Schatzsucher und Nekrophile fern zu halten. Auch diese Aufgabe übernimmt Webber ab und zu – allein. «Es ist schon ein spukiges Gefühl, nachts allein inmitten offener Gräber», sagt er. «Man tendiert dazu, sich Dinge vorzustellen.»
Selbst in den nebligsten Nächten habe er aber keine Geister gesehen. Fast erstaunlich bei den unvermeidlichen Gedanken an jene viktorianischen Gräber, die er am Tag ausgegraben hat und die durch Steinplatten mit eingemeisselten Flüchen geschützt sind. Die Abschreckung richtete sich einst gegen Leichenfledderer, die Ärzte mit damals begehrtem Obduktionsmaterial versorgten.
«Auf einen Schatz mit Goldmünzen warte ich selbst noch», sagt Webber. Doch nicht mal die wenigen interessanten Fundstücke – Münzen, Keramik und kunstvolle Namensplaketten – kann er behalten: die erhalten Archäologen. An vielen Arbeitsorten Webbers würden die gern selber die Schaufel schwingen. Doch gegen die Erfahrung von einer halben Million exhumierter Gebeine kommt kein Archäologe an. Die Bauherren vergeben ihre Aufträge an Necropolis, denn Webber gräbt billiger und schneller. Haben sie Glück, erhalten die Archäologen am Rand des Grabungsareals eine «Spielecke», wie es Necropolis-Chef David Jenkins nennt. Dort dürfen sie einige Gebeine bergen und bekommen Webbers Fundstücke präsentiert. Immer wieder stossen die Grabenden auf Särge, die mit Bleiplatten versehen sind: die letzten Hüllen von Adligen und Reichen, die sich vor aufdringlichen Würmern und Insekten schützen wollten. Die Blockade gegen die Werkzeuge der Vergänglichkeit funktioniert nur teilweise. Als Webber den «strengen Geruch» erwähnt, der von verzögerter Verwesung kündet, klingen seine Worte für einmal eine Spur weniger lapidar.
Doch Bleisärge können Schlimmeres bergen als Grauen erregende Reste. Wenn schon nicht der Mensch darin seine Form bewahrt, so doch vielleicht Viren und Bakterien, die ihn einst umbrachten. Gefürchtet sind Pockenviren und Anthraxbazillen, die Verursacher des Milzbrands.
Findet Webber Gewebereste in Bleisärgen oder auch in feuchtem, tonigem Grund, stoppt er die Grabung und ruft einen Spezialisten zu Hilfe. Der testet die Reste, geschützt im Hochsicherheitsanzug, nach gefährlichen Erregern. Bisher konnten die Experten immer Entwarnung geben. So galt es als unwahrscheinlich, dass Mikroben die Zeit in den Leichen ihrer Opfer überdauern. Neue Entdeckungen stellen diese Ansicht aber in Frage. Archäologen stiessen in den Ruinen eines mittelalterlichen Klosterspitals in Schottland auf lebende Anthraxsporen. Nach 600 Jahren lauern die Überlebensformen des Milzbranderregers noch immer auf Beute.
So war es ein Glück, dass Webber beim ersten der zwei Fälle, bei denen ihm die Öffentlichkeit wenigstens ein bisschen über die Schulter blicken durfte, auf blanke Knochen stiess. Es waren die Gebeine des Sioux-Häuptlings Long Wolf, die nach langem Exil ins Land der Väter zurückkehren sollten. Der Veteran der legendären Schlacht am Little Big Horn hielt sich nach verlorenem Kampf als Darsteller in Buffalo Bills Wildwest-Show über Wasser. Er starb 1892 auf Tournee in London und wurde in der Stadt begraben, obwohl er die letzte Ruhe in heimatlicher Erde ersehnt hatte.
Vor acht Jahren spürte eine Hausfrau sein Grab auf, nachdem sie in einem alten Buch die Geschichte des Häuptlings gelesen hatte. Über Annoncen in amerikanischen Zeitungen fand sie seine Nachfahren, die sein Grab schon lange suchten. Am 25. September 1997 brachte Webber die Gebeine aus vier Meter Tiefe ans Licht, wo sie von seinen Nachkommen ehrfürchtig und von den Fernsehkameras neugierig erwartet wurden.
Der zweite Fall mit Medienbeteiligung fand ein Jahr später statt. Für Webber war es der «Höhepunkt seiner Karriere» – obwohl er das öffentliche Interesse zu gross fand. Eine Gruppe von Wissenschaftlern reiste auf die hoch im Norden liegende Insel Spitzbergen. Im Permafrostboden wollten die Forscher die gefrorenen Leichen von sieben Bergleuten ausgraben, die 1918 von der Spanischen Grippe dahingerafft wurden. Im Visier der verwegenen Aktion: die Bergung der tödlichen Viren, die damals über 20 Millionen Menschen töteten. Schon die Vorbereitung für das neuntägige Abenteuer führte Webber auf Neuland. In der Nähe von Paris besorgte er ein luftdichtes Zelt, das die Grabungsstelle hermetisch abschotten sollte, um eine Verbreitung der Viren zu verhindern. Es war Webbers erste Reise auf den europäischen Kontinent. Sie dauerte einen Tag, den er ausschliesslich in der Zeltfabrik verbrachte. Auf Spitzbergen traf Webber mit vier Kollegen im Sommer, genau am 19. August, ein – es war minus sechs Grad. Sie mussten sich alle paar Minuten beim Graben abwechseln. Das eisige Wasser, das sich in der Grube sammelte, war trotz Isolierstiefeln nicht länger auszuhalten.
Jeder Stein, jeder Grasziegel auf den Gräbern wurde nummeriert und kartografiert. Nachdem die Gewebeproben genommen, die Grube wieder zugeschüttet war, sollte alles wieder so aussehen wie vorher. Das waren die strengen Bedingungen, die Angehörige der toten Bergleute und der Schutz der empfindlichen Tundravegetation diktierten. Die Projektleiterin, eine kanadische Biogeografin namens Kirsty Duncan, mobilisierte die Weltpresse für ihr Projekt. Täglich inszenierte sie eine feierliche Pressekonferenz, bei der sie in salbungsvollen Worten die geforderte Pietät zerredete: «Das Team ist erfreut mit dem, was wir heute mit Respekt und Würde erreicht haben», kommentierte sie den Grabungsbeginn.
Webber stand, wie immer, nicht im Rampenlicht. Für einmal gibt er seine geliebte Diskretion auf und erzählt, wie die Leute, die täglich im Zelt – unbemerkt von der Presse – die strenge Arbeit verrichteten, versteckt in der dritten Reihe standen und sich ärgerten über «die zu guten Mikrofone der TV-Journalisten», die jegliches Lästern über die «Show der Primadonna» Duncan unmöglich machten.
Trotz «Webbers meisterlicher Arbeit», wie Expeditionsteilnehmer Tom Bergan sagt, endete die Aktion mit einer Enttäuschung. Die Leichen lagen über dem gefrorenen Teil des Bodens. Die Forscher nahmen trotzdem Gewebeproben, in denen sie, ein Jahr später, immer noch nach Spuren der ersehnten Viren suchen.
Roger Webber hat in dieser Zeit zu Hause in England schätzungsweise 14 000 weitere Gebeine umgebettet; bis zur Pensionierung in zehn Jahren werden es etwa 140 000 weitere sein. Obwohl er sicher ist, dass er seinen Beruf auch dann noch mögen wird, hat er einen Entschluss schon gefasst: Webber will sich dereinst kremieren und im Wind verstreuen lassen.