Glaubensfragen

Glaubensfragen

Die Wissenschaft ist dem Glauben auf der Spur und entschlüsselt seine Entstehung im Gehirn. Die Befunde sind umstritten. Denn in all seinen Facetten bleibt der Glaube eine Glaubensfrage.

Zu Michael Persinger kam Gott aus einem Helm. Ein Muster magnetischer Schwingungen, schwächer als die Emission eines Föhns, aber unvergleichlich komplexer, drang aus dem Gerät durch Kopfhaut und Schädelknochen auf die Schläfenlappen des Gehirns hinter dem Ohr. Und da spürte der Professor der kanadischen Laurentian University zum erstem Mal die Präsenz eines höheren Wesens.

Das mystische Erlebnis, das der Neuropsychologe inzwischen auch bei etlichen Versuchspersonen ausgelöst hat, führte ihn auf direktem Weg in ein intellektuelles Minenfeld. Denn wie alle menschlichen Regungen entstammt auch religiöses Empfinden dem Drei-Pfund-Universum unter der Schädeldecke – so wie Sprache, Liebe oder das Gehen auf zwei Beinen. «Viele Eigenschaften machen uns menschlich, aber keine ist rätselhafter als Religion», sagt Vilayanur Ramanchandran, Neurologe von der University of California in San Diego.

Doch wer das Rätsel lösen möchte und den Sitz der Religion im Hirn sucht, gerät schnell in Verdacht, den Glauben anderer zu entwerten. Das liegt nicht nur am Thema, sondern auch an der Methodik. Denn Forscher wie Ramachandran analysieren, was ihnen die Wechselfälle des Lebens ins Labor spülen: Einerseits Ausfälle im Gehirn durch Tumoren oder Schlaganfälle, anderseits die anfallartige Hyperaktivität von Hirnzentren, die Epileptiker befällt. Auf dem Umweg über die krankhafte Veränderung versuchen sie Areale zu identifizieren, von denen religiöse Gefühle ausgehen. Doch damit ist auf keinen Fall gesagt, dass all die vielen Menschen, die an einen Gott glauben, oder auch die Atheisten, die die Existenz höherer Wesen bestreiten, eine krankhafte Veränderung im Gehirn hätten.

Tatsächlich unterscheiden sich Besucher eines Weihnachtsgottesdiensts meist deutlich von neurologischen Patienten, von denen manche rechthaberisch und bis zur Obsession gefesselt von religiösen Themen sind. Der Epileptiker Paul etwa, sagt Ramachandran, «hat die Arroganz eines Bekehrten, aber nichts von der Bescheidenheit eines tief Religiösen». Eine Art von Gewitter auf seinem linken Schläfenlappen, seit dem achten Lebensjahr immer wieder auftretend, hat ihm das Gefühl gegeben, eins zu sein mit dem Schöpfer, und all die Zweifel vertrieben, die das Leben wecken kann.

Die Hirnregion hinter dem linken Ohr, in der Pauls epileptischer Fokus liegt, ist eng mit dem limbischen System verschaltet, speziell mit der Amygdala. Dieser Knoten tief im Gehirn weist den Erlebnissen ihre emotionale Bedeutung zu. Womöglich, spekuliert Ramachandran, haben die Anfälle diese Verbindung so verändert, dass Paul seine Sinneseindrücke anders bewertet als normale Menschen. «Er sieht das Universum in einem Sandkorn und schwimmt in einem Meer religiöser Ekstase.»

Die Funktion der Amygdala lässt sich messen, indem Forscher ihren Testpersonen Fotos zeigen und die Leitfähigkeit der Haut messen. Menschen ohne Epilepsie reagieren am stärksten auf Bilder von Verwandten sowie von Sex und Gewalt. Bei Patienten wie Paul aber verblassen diese Triebfedern menschlicher Existenz: Pin-ups und brennende Menschen lassen sie kalt, aber das Wort «Gott» treibt ihre Reaktion in die Höhe.

Toben die Gewitter in einer benachbarten Region des Schläfenlappens, sind die Betroffenen von Philosophie gefesselt oder von Sex. Ramachandran spekuliert daher, dass bei Paul der Blitz der Epilepsie in das «Gottes-Modul» des Gehirns eingeschlagen habe. Er gibt aber zu, dass die Hypothese kaum zu testen ist: Dazu müsste ein Chirurg die betroffene Hirnregion entfernen oder die Epilepsie anders unterdrücken: «Würden Sie als Arzt so einem Patienten wirklich Medikamente geben und damit seine Besuchsrechte beim Allmächtigen widerrufen?»

Ohnehin wären Menschen wie Paul in früheren Zeiten eher verehrt als behandelt worden. Saulus, der sich auf der Reise nach Damaskus in Paulus wandelte, litt unter Schläfenlappen-Epilepsie, spekulieren William Calvin und George Ojemann. «Auch die Stimmen, die Johanna von Orleans sagten, sie solle Frankreich retten, könnten Halluzinationen durch Schläfenlappen-Anfälle gewesen sein», schreiben die Neurologen von der Universität des US-Staates Washington.

Wenn Gewitter durchs Hirn ziehen, geraten Balance und Zusammenarbeit der Gehirnhälften durcheinander – bei Epilepsie zu Gunsten der linken Hemisphäre. Sonst erwachsen religiöse Gefühle aber meist aus der umgekehrten Verschiebung. «Bei vielen Menschen, die Beziehungen zwischen Dingen sehen, die eigentlich keinen Bezug haben, ist das rechte Gehirn von der Kontrolle des linken befreit», sagt Peter Brugger, Neuropsychologe am Zürcher Unispital. Normalerweise wirkt die linke Hirnhälfte als Sitz der Sprache wie ein Zensor, der verhindert, dass die umfassenderen Assoziationen der rechten Seite einen Ausdruck finden. Werde die Vorherrschaft der linken Hemisphäre in Frage gestellt, dann könnten brillante Ideen eines Künstlers oder Erfinders ebenso durch die Zensur schlüpfen wie der Glaube an ein nicht wahrnehmbares Wesen.

Viele religiöse Rituale, sagt Robert Ornstein, der etliche Bücher über das Gehirn geschrieben hat, verschaffen der rechten Hemisphäre mehr Einfluss. In mystischen Glaubenslehren unterdrücken monotone Gesänge und rituelle Bewegungen die Macht sprachlicher Gedanken. Auch die Konzentration auf geometrische Muster oder Phrasen, die für den rationalen Verstand wenig Sinn machen, dienen dem Zweck. «Das dient nicht nur der Entspannung, sondern stellt die normalen inneren Gespräche ab.» Auch Michael Persingers Magnethelm schliesslich greift in das Zusammenspiel der Gehirnhälften ein: Das Wellenmuster wirkt erst 15 Minuten auf die rechte Hirnseite ein, dann auf die linke, bevor der Träger das Gefühl einer «Präsenz» bekommt.

Die Erklärung des kanadischen Psychologen mutet jedoch fast genauso mystisch an, wie die Erfahrung selbst sein muss. Durch die magnetischen Wellen, so die Hypothese, werden nacheinander die Sitze des Selbst-empfindens auf beiden Seiten intensiv angeregt. Normalerweise dominiere die linke, sprachliche Seite das Bewusstsein, aber nun mische sich die aufgeputschte rechte Seite ein. Weil deren Ich nicht durch Worte beschrieben wird, erscheine sie dem linken Hirn merkwürdig verschoben, fremd, doch vertraut und von hoher Bedeutung. Die mystische Präsenz, die die Versuchsperson fühle, sei daher nicht der Kontakt mit Gott oder einem Dämon, sondern eine Form der Selbsterkenntnis.

All die Resultate deuten also darauf hin, dass Glauben seinen Ursprung in Vorgängen im Hirn hat. Das scheint die Atheisten zu bestätigen, die stets behaupten, der Mensch habe sich Gott erschaffen und nicht umgekehrt. Doch für einen Gläubigen widerlegt die Forschung keineswegs die Existenz Gottes. Wer kann schliesslich sagen, dass sich ein höheres Wesen nicht dieser neuronalen Mechanismen bedient, um mit seinen Anhängern zu sprechen?

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