Folgenschwere Patzer – Um menschliches Versagen in Operationssälen zu verhindern

Folgenschwere Patzer

Um menschliches Versagen in Operationssälen zu verhindern, sollen Mediziner die Arbeit unter Stress üben – zusammen mit Berufspiloten.

Die Verwechslung hatte tragische Folgen: Im Kasseler Klinikum wollten Chirurgen am 20. Oktober einem
52-jährigen Krebspatienten einen befallenen Lungenflügel entfernen. Doch sie schnitten Teile des gesunden Flügels heraus. Kein Einzelfall – Ärzte machen Fehler und gefährden dadurch Patienten. Nach einer Studie kommen allein in
US-Spitälern jährlich 120 000 Patienten durch menschliches Versagen ernsthaft zu Schaden.

Für die Schweiz liegen keine Zahlen vor, doch Stichproben zeigen, dass auch hier zu Lande die hoch bezahlten Doktoren nicht unfehlbar sind. So gingen im Kantonsspital Basel von 150 dokumentierten Vorfällen 70 Prozent auf menschliches Versagen zurück. Oft bleibt der Pfusch am Krankenbett freilich folgenlos. Der Patient kommt meist glimpflich davon, wenn er während der Operation fast aufwacht, weil der Anästhesist gerade von seinem Urlaub erzählt. Doch in der Hochrisikobranche Medizin birgt jeder Patzer die Gefahr einer menschlichen Tragödie.

Die Erfahrung zeigt, dass weder fachliche Weiterbildung noch zusätzliche Warnlämpchen die Fehlerquote entscheidend drücken können. Der Teufel sitzt in der menschlichen Unvollkommenheit, bei den so genannten «weichen Faktoren»: Stressblockade, Übermüdung, Versagensängste oder einfach schlechte Laune, Unaufmerksamkeit – überall lauern Fallen. Kein Arzt arbeitet denn auch fehlerlos. «Ich mache jeden Tag Fehler, ich bin schliesslich nur ein Mensch», sagt Chefarzt Daniel Scheidegger vom Kantonsspital Basel.

Der Anästhesist hat Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen. Wenn es schon «keine Null-Fehler-Kultur» gibt, so hat er sich gesagt, sollen die Patienten wenigstens nicht darunter leiden. Die Schnitzer sollen folgenlos bleiben.

Der Pionier Scheidegger bittet seit fünf Jahren ganze
OP-Teams samt Krankenschwestern und -pflegern zur simulierten Operation. Damit will er den Teamgeist und die Gesprächsbereitschaft in der Gruppe fördern. Das scheint gerade im Spital nötig zu sein, wo Konkurrenzdruck, Stress und berufliche Abhängigkeiten eine kritische Auseinandersetzung oft verhindern. Mit der richtigen Einstellung könnten sich Chefärzte, Assistenten und Krankenschwestern gegenseitig auf Gefahren und Patzer aufmerksam machen.

An einer mit der Nasa zusammen entwickelten Hightech-Puppe legen die Profis Hand an, entfernen eine Gallenblase oder ersetzen ein Stück Schlagader. Organe vom Schwein sorgen dafür, dass der Eingriff echt wirkt: «Es blutet und spritzt, wenn der Chirurg reinschneidet», sagt Dieter Betzendörfer, der für die Simulationstechnik verantwortlich ist. Blutdruck, Herzschlag, Atmung, Körpertemperatur – alles lässt sich am künstlichen Patienten steuern.

Der Versuchsleiter kann auch Komplikationen programmieren, etwa den Puls hochfahren, so dass die Ärzte ordentlich unter Druck geraten. Doch es geht nicht um handwerkliches Geschick, sondern um zwischenmenschliches Verhalten. Bei der Diskussion, die sich dem Eingriff anschliesst, heisst das zentrale Thema: Wie geht das Team unter Stress miteinander um?

Scheidegger hat aber noch mehr vor, um den Spitalbetrieb sicherer zu machen. Er will das Simulationsprojekt, das der Schweizerische Nationalfonds unterstützt, mit einer Verhaltensschulung ergänzen. Hilfe hat er sich dafür bei einem erfahrenen Unternehmen gesucht: der Swissair.

Die Luftfahrt leidet besonders unter den menschlichen Unzulänglichkeiten, denn auch in diesem Metier kann jeder Fehler tödliche Folgen haben. Rund drei Viertel aller Flugunfälle gehen auf menschliches Versagen zurück. Die Fliegerbranche hat schon frühzeitig darauf reagiert: Seit zehn Jahren gehören Flugsimulationen und Verhaltensschulung zum festen Bestandteil der Aus- und Weiterbildung. Immer wieder müssen Piloten im Simulator gefährliche Situationen durchspielen, ihre Krisenfestigkeit unter Beweis stellen, ihre Funktion im Team ausloten und ihre Psyche abklopfen lassen.

Zudem werden in der Luftfahrt kritische Situationen nicht unter den Teppich gekehrt, sondern systematisch ausgewertet, um daraus zu lernen. Allein im letzten Jahr kam weltweit eine Liste von 28 000 solcher Vorfälle zusammen. Da war zum Beispiel der Kampfjet-Pilot, der in finsterer Nacht mit Überschallgeschwindigkeit über die Nordsee donnerte und aus Langeweile am Bordcomputer herumbastelte. Dabei verursachte er einen Kurzschluss, der die Beleuchtung lahmlegte, so dass er nichts mehr sehen konnte. Er musste den Notstromschalter umlegen – doch direkt daneben lauerte der Knopf für den Schleudersitz. Der Pilot hatte Glück und griff zur richtigen Armatur. Die Lehre aus der Panne: Inzwischen befinden sich die beiden Schalter nicht mehr nebeneinander.

In der Fliegerei hat sich auch gezeigt, dass meist erst eine Verkettung unglücklicher Umstände zur Katastrophe führt. «Von einem echten menschlichen Versagen kann man in den seltensten Fällen sprechen», sagt Barbara Klampfer von der ETH Zürich, die sich als Psychologin mit der fliegerischen Unfallforschung beschäftigt.

Beim schlimmsten Crash in der zivilen Luftfahrt, als am
27. März 1977 zwei Jumbos auf dem Flugfeld von Teneriffa zusammenstiessen und 583 Menschen in den Flammen starben, herrschte nicht nur Bodennebel. Der Pilot, der unerlaubt startete, hatte es auch eilig, weil er wenige Minuten später samt Crew wegen Arbeitszeitüberschreitung hätte ausgewechselt werden müssen. Schliesslich missverstand er eine Tower-Anweisung, die seinen weiteren Flug betraf, als Startfreigabe. Und ausgerechnet als das Bodenpersonal die Maschine zum Warten aufforderte, war der Funkverkehr gestört.

Obwohl immer wieder Flugzeuge wegen menschlichen Versagens abstürzen, zuletzt am 31. Oktober 1999 die Boeing 767 der Egypt Air, deren Pilot möglicherweise lebensmüde war, hat sich die obligatorische Verhaltensschulung bewährt. Werner Naef, der bei der Swissair für die «Human-Factor-Ausbildung» zuständig ist, spricht von einem «ausgewiesenen Erfolg» und verweist auf eine Studie der US-Luftwaffe. Nach Einführung der Persönlichkeitsschulung ging dort die Zahl der schweren Vorfälle um über 50 Prozent zurück. Bei der unfallträchtigen Hubschrauber-Fliegerei über offenem Meer, dem Shuttle-Verkehr zu den Ölplattformen, sank die Quote sogar um bis zu 80 Prozent.

Kapitän Naef hat nun zusammen mit Chefarzt Scheidegger einen Schulungskurs ausgearbeitet, der medizinisches Personal fit für den täglichen Stress machen soll. Auf dem Programm stehen Wahrnehmung, Kommunikation, Konfliktbewältigung, Risikomanagement, Entscheidungsfindung und Führungsverständnis. Sowohl Ärzte als auch Piloten geben hier ihre Erfahrungen weiter. Ob die Ärzteschaft das Angebot annimmt, muss sich freilich erst noch zeigen. Die Basler OP-Simulation jedenfalls, die schon jahrelang läuft, «hat bisher keinen Schneeballeffekt ausgelöst», bedauert Scheidegger. Keine andere Klinik in Europa hat in diese Art Vorsorge investiert.

Noch herrschen in der Medizin und der Luftfahrt verschiedene Kulturen beim Umgang mit dem Human Factor. Während in der Luftfahrt die Simulation eine Pflicht ist, die jeder Pilot zur Verlängerung seiner Flugerlaubnis im Halbjahresturnus absolvieren muss, gilt sie vielen Ärzten als vergeudete Zeit. Nach Scheideggers Erfahrung hassen Mediziner die Unproduktivität: «Ärzte sagen: Übe doch am Patienten.» Dabei kann das Trockentraining viele Fehlerquellen ausschalten. Schon kleine Veränderungen im Arbeitsablauf können tragische Konsequenzen wie in einem amerikanischen Krankenhaus verhindern, als einem Patienten das falsche Bein amputiert wurde.

Damals hatte sich der Fehler in den OP-Report eingeschlichen, der vor jedem Eingriff erstellt wird. Die falsche Angabe wurde zwar korrigiert, doch Kopien hatten bereits die Runde gemacht. So bereiteten die Krankenschwestern das falsche Bein zur Amputation vor, und auch auf der Wandtafel im OP standen falsche Angaben. Der Chirurg wunderte sich zwar, warum er dieses Bein operieren sollte, doch die gesamten Umstände überzeugten ihn. Am Patienten konnte er seinen Fehler nicht erkennen, denn beide Beine waren schlecht durchblutet und kalt.

In Basel kann so etwas nicht passieren. Die Anästhesisten, sagt Scheidegger, fragen jeden Patienten vor der Narkose, welche Operation ansteht – «auch wenn die Leute sagen, wir spinnen».

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