Faszination Sonne

Faszination Sonne

Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang in gut vier Milliarden Jahren: Ohne Sonne geht es nicht. Und wenn sie nur zum Braten da ist.

Du lieber Himmel, der Strand von Mallorca wäre nichts gewesen für Theodor W. Adorno. Das «Verhalten jener, die in der Sonne sich braun braten lassen, nur um der braunen Hautfarbe willen», brandmarkte der deutsche Kulturkritiker als «Prototyp des abstrakten Charakters der Freizeit». Immerhin, auch er fand «die Bräune» der Haut ja «ganz hübsch», das schon. Doch ergreife in ihr der «Fetischcharakter der Ware die Menschen selber; sie werden sich zu Fetischen».

So spricht ein blässlicher Kopfmensch den lichthungrigen Sklavenmassen des Kapitals ins Gewissen, ein Mann, der von seiner dunklen Schreibstube aus stets die Erleuchtung durch den Intellekt predigte. Stimmt ja auch. Mit Vernunft haben die Barbecue-Ballermänner nichts am Sonnenhut. Befragungen haben ergeben, dass sich ein Viertel der Schweizer zwischen 15 und 74 mindestens einen Sonnenbrand pro Jahr holt. Dass die Dermatologen dies für einen lebensgefährlichen Blödsinn halten, lässt sie kalt: Die Haut, sagen die Ärzte, hat ein Elefantengedächtnis. Jeder einzelne Brandschaden sei ein Meilenstein auf dem Weg zum schwarzen Hautkrebs. So führt der Weg vom lichten Palmenstrand für viele am Ende in die kühle Grube.

Und doch, das Tagtier Mensch ist nicht für die Dunkelheit geschaffen. In der Nacht kommen die schlechten Träume, die Ängste und die Zweifel. Zu seinem Glück braucht er das Licht. Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heitren Stunden nur. Die goldene Lebensregel des Frohsinns ist wissenschaftlich untermauert. Optimisten, bestätigen viele Studien, sind gesünder und sterben später. «Für gute Laune und gegen Depressionen braucht es Licht», sagt Umberto Costanzo, stellvertretender Oberarzt an der Dermatologischen Universitätsklinik Bern. Trauriges Exempel aus jünster Zeit, wohin eine Schattenexistenz führen kann, ist der Selbstmord von Hannelore Kohl. Die sonnenblonde Frau des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers laborierte an einer Lichtallergie. Ob es letztendlich der chronisch abwesende Ehemann war, der sie in der Eiszeit der Einsamkeit verklirren liess, oder ob es die Qual war, von der lichten Welt ausgeschlossen zu sein, wird wohl im Dunkeln bleiben. Aber dass ein Leben ohne schönes Wetter, ohne Ausflüge, ohne Spaziergänge zur Hölle wird, leuchtet jedem ein.

Zu wenig Sonne ist nicht gut. Zu viel aber auch nicht. Doch wo ist das rechte Mass zwischen Höhlendasein und Sonnenkult? Die ewige Zerrissenheit hat dem Erdling ein Höherer eingebrockt. «Es werde Licht», sprach er am vierten Tag seiner Schöpfungswoche, und der Herr installierte «zwei grosse Lichtkörper» am bis dato umnachteten Himmelsgewölbe: den kleineren zur «Beherrschung der Nacht», den grösseren «zur Beherrschung des Tages», die Sonne. Sie machte, dass sich das irdische Leben zwischen Extremen abspielt: heiss und kalt, Tag und Nacht, heute und morgen, Sommer und Winter, Dürre und Frost. Helle Haut und dunkle Haut. Heiterkeit und Hautkrebs.

Dabei ist die Sonne eigentlich nur ein unvorstellbar heisser Ofen. Er heizt pünktlich im Elf-Jahres-Rhythmus, mal mehr, mal weniger. Ein irdisches Grosskraftwerk ist gegen ihn ein armseliges Einwegfeuerzeug. Auf der Fläche einer Fünfzimmerwohnung knallt die Sonne so viel Power heraus wie sämtliche Kraftwerke der Schweiz zusammen.
Glänzende Idee, dass der Allmächtige sie mit Sicherheitsabstand ans Firmament gepackt hat: So weit entfernt, dass ein zur Erde gebeamter Strahl 500 Sekunden braucht, bis er angekommen ist. Sollte der Schöpfer aus einer neuen Laune heraus der Sonne plötzlich den Saft abdrehen, würde es für die Bräunungsfetischisten hier unten erst mit einer Verzögerung von knappen acht Minuten zappenduster.

Die Sonne war der leistungsstarke Motor der Evolution: Sie liess die ersten Dinosaurier schlüpfen, wärmte dem Neandertaler das struppige Fell und schenkte den alten Germanen die Möglichkeit, sich bei einer zünftigen Sonnwendfeier ein Horn voll Met hinter die Binde zu giessen. Doch manchem zeigte die Sonne auch die kalte Schulter: Sie liess das Mammut erfrieren, und der arme Grottenolm, ein Lurch, der in sonnenlosen Höhlen haust, schmachtet noch heute fahl und augenlos einer lichteren Daseinsform entgegen.
Schliesslich liess die Sonne die Morgenröte der Kultur des Abendlands heraufdämmern. Beim gigantischen Himmels-Akku funkte es, der Blitz fuhr in einen alten Baum, und schon hatte ein heller Mensch das Feuer entdeckt. Freudig bat er die Sippen-Kumpels zur ersten Grillparty der Geschichte. So wie ein paar Jahrmilliönchen später der Homo Feriensis, genoss auch der Frühmensch sein Schnitzel gern unter freiem Himmel; flugs flocht er einen Schattenspender aus Gras. Frühgeschichtsforscher sagen, dies war das allererste Dach überm Kopf: ein kleiner Schritt für den Jäger und Sammler, aber ein grosser für die Architektur.

Da sass er nun mit vollem Wanst, blinzelte in die Sonne und dachte sich, typisch Mensch: Mir fehlt noch was. Irgendwie philosophisch wurde ihm zu Mute: Was ist das für eine seltsame Scheibe, die sich nach Feierabend immer davonmacht? Wo geht sie hin? Und warum lässt sie sich nicht ins Gesicht sehen, ohne dass der Erdenwurm in Minutenschnelle blind wird?
Schon die Vor-Vorfahren der heutigen Eidgenossen leuchteten die Geheimnisse der Sonne aus. Aha, fanden sie heraus, der Belchen im Jura, der Belchen in Südbaden und der französische Ballon d’Alsace – alle drei sprachlich mit dem indogermanischen Sonnengott Bhel verwurzelt – bilden ein rechtwinkliges Dreieck, und wer an den Sonnwendtagen auf dem Elsässer Belchen steht, sieht die Sonne genau über einem der beiden anderen Belchen aufgehen. Später tüftelten die Schweizer das Chorfenster des Basler Münsters so trickreich aus, dass just am 21. Juni die Sonne direkt in die unterirdische Krypta schien – genau auf den Altar. Und der Berner Feinmechaniker Hans Wyniger konstruierte ein Segel, mit dem die Sonnenwinde gemessen werden können, das heute noch auf dem Mond steht.
Der Mensch, von Gott am sechsten Tag modelliert, estimierte die Sonne am Anfang noch als Familienmitglied. In den südlichen Regionen war sie männlich – «le soleil» sagen die Franzosen -, in den nördlichen weiblich. Sonnenklar: Die Menschen im Süden wünschten sie sich manchmal zum Teufel mit ihren aggressiven Strahlen. Einem Afrikaner oder einem Ägypter würde es nie einfallen, die «liebe» Sonne sehnsüchtig zu bitten, doch zu «scheinen». Das tun nur die blau gefrorenen Nordlichter. In ihrer düsteren Verzweiflung reisen sie ihr sogar meilenweit hinterher. Dahin, wo sie am effektivsten bruzzelt, nach Tunesien oder in die Südtürkei, im Augenblick die liebsten Sonnenziele der Schweizer.

Die Ehrfurcht vor Herrn oder Frau Sonne war jedoch schnell verpufft. Wollen doch mal sehen, ob wir der Sonne nicht etwas Glanz abstauben können, dachten sich die Astronomen. Bald waren Flecken auf ihrer gelben Weste entdeckt. In der katholischene Kirche, geistesmässig ziemlich hinterm Mond daheim, gab es heisse Diskussionen. Grosse Eruption, als Nikolaus Kopernikus (1493-1543) behauptete, die Erde sei nicht der Mittelpunkt der Welt und die Sonne, man höre, ein normaler Wald-und-Wiesen-Stern.
Dabei hätte Kopernikus für diese Erkenntnis ein Heiligenschein gebührt, auch dies übrigens ein Sonnensymbol. Helios ist wirklich einer der kleineren Sterne, ein «weisser Zwerg», mit nur 330 000-mal mehr Masse als die Erde – ein mickriges Stäubchen in einer Wolke von 100 Milliarden Sternen im All. Immerhin, er atmet, was für einen Stern auch eine schöne Leistung ist. Im Weltstrahlungszentrum von Davos beobachten Astronomen Auf- und Abwärtsbewegungen der Sonnenoberfläche, die Veränderungen der Strahlungsenergie und womöglich Kilmaveränderungen verursachen. Leider ist der Stern auch ziemlich abweisend: Wohl niemals wird der Mensch auf der Sonne herumstapfen können, weil der Feuerball jedem, der ihm zu nahe kommt, die Flügel versengt wie dem bedauernswerten Ikarus.

Abgehobene Wissenschaftler. Der kleine Mann dachte seit jeher lieber an die eigene Haut. Und die soll heutzutage schön braun sein. Nachdem die Religion auch nicht mehr das ist, was sie mal war, wird die lustvolle Aneignung eines dermatologischen Schadens – die Pigmentierung ist nichts weiter als ein eingebauter Sonnenschutzschirm – zum Lebenssinn. «Bräune ist zum Selbstzweck geworden», wie Adorno mäkelte. «Wichtiger als der Flirt, zu dem sie vielleicht einmal verlocken sollte.» Eine etwas blasse Theorie für einen geistigen Überflieger, doch es ist die nackte Wahrheit: Selbst die Kommunisten haben ihren Slogan «zur Sonne, zur Freiheit» ausgemustert. Sie verbringen heute ihre Ferien an der Côte d’Azur. Genau wie der Konsummensch, der längst «Brüder, zur Sonne, zur Freizeit!» auf seine Fahnen geschrieben hat.

Am Sonntag, dem siebenten Tag der Woche, in der spätantiken «Planetenwoche» der zweite, dem Sonnenkult gewidmete Tag, zieht es – Wochenend und Sonnenschein! – die lichthungrigen Massen hinaus aus grauer Städte Mauern und an den Grillautomat Sonne. Dabei war der Alpöhi-Look noch Anfang des Jahrhunderts das Letzte. Ein attraktiver Mensch musste aussehen wie Schneewittchen, «schön wie Milch und Blut». Wer was war, konservierte seinen Teint in der Farbe eines frisch eingelegten Engerlings. Sommersprossen, rote Backen gar galten als Eingeständnis, dass man es zu nichts gebracht hatte. Kein Schloss, kein Salon, keine Zofe, kein gar nichts: Braun waren nur die Bauern, Landarbeiter, Seeleute und Sennen. Bleichsüchtige weibliche Modeopfer kleisterten sich mit Emaillepaste zu, die das Lächeln zu Eis gefrieren liess.

Das Weissheitsgebot der parasitären Schichten lockerte sich erst, als Industrieschlote den Horizont verdüsterten. In den Arme-Leute-Löchern der neuen Städte wuchsen die Kinder schief und krumm heran: Rachitis, eine Vitamin-D-Mangelkrankheit mit Störung des Calcium- und Phosphatstoffwechsels. Ursache: der Mangel an Sonnenlicht. Lebertran half. Und die Sonne. 1855 gründete der Schweizer Arnold Rikli in Veldes die erste Sonnembadeanstalt der Welt, in der die Halbentblössten aufgereiht lagen wie in einer Sardinenbüchse.
Das hatte die Sonne noch nicht gesehen: Auf einmal drängten die Nackten ans Licht. Skurrile Freikörperkulturvereine wie die «Wissenschaftliche Nacktloge A.N.N.A.» oder die «Aristokratische Nudo-Natio-Allianz» stemmten sich bloss bis zum Hals gegen Krawatte tragende Kulturträger wie den deutschen Reichskommissar Franz von Papen, der 1932 im Wahn lebte, er könne mit seinem «Zwickelerlass» auf die Schnitte der Bademode Einfluss nehmen. Braun wurde schick. Ausgerechnet Hitler, der schlimmste Finsterling aller Zeiten, ein bleicher Grottenolm der Unterwelt, erwärmte sich für hüllenlose Lichtgestalten.

Auf alten Fotos turnen splitternackte Recken rösch wie ofenfrische Bürli durchs spitze Schilf. Ein rechter Teutone hatte «zäh wie Leder» zu sein, nur interpretierten das die Nazis etwas anders als die Hautfachleute heute. «Die Sonne ist sicher der wichtigste Faktor der Hautalterung, zusammen mit dem Rauchen», sagt Dermatologe Umberto Costanzo. Hautstellen, «die häufig exponiert sind», schrumpeln wie Äpfel im Winter. So besteht zwischen Antlitz und Allerwertestem des Sonnenanbeters oft ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ist das Gesicht runzlig gegerbt wie ein alter Lederrucksack, erstrahlt der Po noch hell wie ein Mozzarella-Käse.
Doch so richtig anbetungswürdig wurde der – nahtlos! – braune Body erst durch den modernen Massentourismus. 1956, ein Jahr nach Gründung der Luft-Transport-Union (LTU), startete eine Maschine mit 30 Erwählten an Bord, die das nötige Kleingeld hatten, ab an die Sonne. Nach Mallorca. Stolz streckten sie nach der Rückkehr ihren Grillspeck heraus – ein Statussymbol, besser als ein S-Klasse-Mercedes.

Und nun stürzt sich also Ballermann billig und pauschal in den kollektiven Pigmentierungsrausch. Schon drängt es wieder die Unken aus den Löchern: Das Imperium schlägt zurück! Das Ozonloch wächst! Die UV-Schutzbrille der Atmosphäre sei in den vergangenen 30 Jahren um etwa zehn Prozent schwächer geworden. Der Strahlenschutz wird jedes kommende Jahr um weitere 0,5 Prozent fadenscheiniger, und wenn das so weiter geht, wird dies hier unten ein verdammt heisses Pfaster.
Hauptsache, die Sonne bleibt cool. Sie kann warten. Erst nach dem Jüngsten Tag wird es keinen Morgen mehr geben. Nur noch eine glimmende Glut im All wird an die Hitzewallungen der Sonne erinnern. Sie hat dann nicht einmal mehr genug Gewicht, um die Planeten in ihrer Umlaufbahn zu halten. Die Erde taumelt aus der Bahn, verlässt das untergehende Sonnensystem und treibt hinaus in die Nacht. Die Reise ins Nichts. Aber nicht ohne Ankunft. Im Raum lauern die Schwarzen Löcher, deren Materie so hoch verdichtet ist, dass selbst Licht ihnen nicht entrinnen kann. Angezogen von der schieren Masse wird die Erde eintauchen in einen dieser Schlunde und in wenigen Stunden verdaut sein. Eingedampft vielleicht in eine Kugel von der Grösse eines Fussballs.

Aber noch wird sie viereinhalb Milliarden Jahre bleiben. Denn sie hat erst die Hälfte ihres Brennstoff-Vorrats verbraucht. Der Bratofen ist noch nicht aus.

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