Eine Partei am Abgrund
Es hat lange gedauert, bis die neue CDU-Führung den Bruch mit Helmut Kohl wagte. Aus dem Schlamassel ist die Partei damit noch lange nicht.
Prominente deutsche Journalisten erhielten vergangene Woche gespenstische Anrufe. «Schauen Sie sich doch mal die Formulierung im dritten Absatz von Schäubles jüngster Erklärung genau an», sagten die Anrufer, die ihren Namen nicht nennen wollten, sich aber als Mitarbeiter der CDU-Parteizentrale zu erkennen gaben. Aus solchen Telefonaten entstanden dann – falsche – negative Schäuble-Schlagzeilen: Um sein korrektes Verhalten nach der Entgegennahme einer Barspende von 100 000 Mark des Waffenhändlers Karl-Heinz Schreiber zu beweisen, habe Schäuble nachträglich die Parteiakten manipuliert, stecke also selber knöcheltief im Spendensumpf und müsse deshalb umgehend zurücktreten.
Hinter solchen Journalisten-Briefings aus dem Apparat der CDU muss der CDU-Ehrenvorsitzende Helmut Kohl nicht persönlich stecken. Sie sind aber zweifellos das Ergebnis des «Systems Kohl», das die Abwahl des CDU-Kanzlers vor 15 Monaten überlebt hat und ohne Rücksicht auf Verluste entschlossen ist, jeden mit in den Abgrund zu reissen, der am Denkmal des deutschen Paten rüttelt.
Dazu passen auch die immer härteren Kohl-Zitate, die in den deutschen Medien kursieren. «Meine Truppen stehen» und «Mal sehen, wer am Ende übrig bleibt», soll Kohl gesagt haben, der alles daran setze, seine Nachfolger zu diskreditieren. Das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» vergleicht den Alten deshalb mit einem «Amok laufenden Elefantenbullen, der alles vernichtet, was ihm in die Quere kommt».
Helmut Kohl ist die Schlüsselfigur in der Krise der CDU, die sich im freien Fall befindet und am Ende sogar auseinander brechen könnte. Denn solange sich der Patriarch weigert, die Namen der Spender zu nennen, die ihm allein zwischen 1993 und 1998 über dunkle Kanäle zwei Millionen Mark zukommen liessen, tappen die «Aufklärer» um CDU-Chef Wolfgang Schäuble im Dunkeln. Kohl begründet seine Weigerung mit dem «Ehrenwort», das er den Spendern gegeben habe, das ihm wichtiger ist als sein Amtseid als Kanzler und als das Schicksal der Partei, die er 25 Jahre lang führte.
Es hat lange gedauert, bis die neue CDU-Führung am Dienstag den Bruch mit ihrem Ehrenvorsitzenden wagte. Zu gross schien die Kohl-Verehrung an der CDU-Basis zu sein, zu übermächtig war die Angst, den Denkmalsturz des Einheitskanzlers politisch nicht zu überleben.
Bis zuletzt versuchte es Parteichef Wolfgang Schäuble im Guten: Unmittelbar vor einer Krisensitzung der Parteiführung versuchte er seinen Vorgänger am vergangenen Dienstag davon zu überzeugen, das Schweigen auch in seinem eigenen Interesse freiwillig zu brechen. Der Patriarch blieb stur, weshalb Schäuble die Flucht nach vorne antrat, mit seinem Rücktritt drohte und so den CDU-Vorstand zu einem Beschluss zwang, der wenige Tage zuvor undenkbar gewesen wäre. Darin fordert die Parteiführung Kohl ultimativ dazu auf, die Namen der Spender zu nennen oder seinen Ehrenvorsitz ruhen zu lassen. Kohl zeigte sich von dieser Drohung unbeeindruckt: Noch am gleichen Tag bekräftigte er seine Weigerung und legte den Ehrenvorsitz nieder. Bleibt er dabei, sind die nächsten Schritte absehbar: Ausschluss aus der Partei und aus der Parlamentsfraktion.
Die Demontage jenes Politikers, der als würdiger Nachfolger Bismarcks und Adenauers in die Geschichte eingehen wollte, ist nicht aus Einsicht, sondern aus der schieren Not geboren. Denn erst seit Freitagabend vergangener Woche ist auch den treusten «Kohlianern» klar geworden, wie tief und wie nah der Abgrund ist, vor dem die Partei steht. An diesem Tag brach das Lügengebäude der hessischen CDU zusammen, die fast zwanzig Jahre lang mit Mafia-Methoden sieben Millionen Mark auf Schweizer Konten versteckte, dort gut anlegte und nach und nach in die Frankfurter Parteikasse zurückschleuste.
Trotz der Distanzierung von Kohl und der Rückenstärkung für Schäuble ist die CDU noch lange nicht aus dem Schlamassel heraus. Niemand weiss, was für Enthüllungen noch auf die Partei zukommen und wie lange die Einigkeit der Parteiführung hält. Denn der CDU-Vorstand hat sich nicht um Schäuble geschart, weil der Kohl-Nachfolger über jeden Verdacht erhaben wäre, sondern weil alle wissen, dass es zurzeit keine Alternative zu ihm gibt: Fällt Schäuble wegen seiner Nähe zum «System Kohl», fallen aus dem gleichen Grund auch fast alle potenziellen Nachfolger aus. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind auch die 40- bis 55-jährigen Mitglieder der neuen CDU-Führungsgeneration Produkte des «Systems Kohl» – und damit für die Zukunft verbrannt. Sie waren wie Hessens CDU-Ministerpräsident Roland Koch politische Ziehkinder Kohls oder sie dienten wie Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe und Ex-Forschungsminister Jürgen Rüttgers dem Patriarchen als Generalsekretär oder als Fraktionsgeschäftsführer.
Gerade wegen seiner jahrzehntelangen Nähe zu Helmut Kohl verfügt innerhalb der CDU nur Wolfgang Schäuble über die Autorität, den Spendensumpf gegen alle Widerstände trockenzulegen, die verfeindeten Parteiflügel zusammenzuhalten und gleichzeitig einen wirklich unbelasteten Nachfolger aufzubauen. Schäubles letzte Pflicht im Dienste der Partei brachte die liberale «Süddeutsche Zeitung» schon vor dem Bruch mit Helmut Kohl auf den Punkt: «Er wird das Fegefeuer für die alte CDU entfachen müssen und selbst darin verbrennen.»