Die Lust an der Entblössung
Intimes vor laufenden Fernsehkameras: Reality-TV bringt Sendern hohe Einschaltquoten und macht aus Unbekannten Stars.
Andi Widmer nippte letzten Sonntagabend zufrieden am Champagner-Cüpli, den Blick auf die TV-Grossleinwand gerichtet. Eben hatte er auf dem Bildschirm Dodo «Jahmann» Jud vom malaysischen Inselparadies der Robinsons mittels Münzentscheid nach Hause geschickt – die bisher letzte Szene in der Serie «Expedition Robinson».
Andi durfte sich als Star fühlen: In der geheizten Scheune in Geroldswil ZH sprangen an die 70 «Robinson»-Fans Beifall klatschend von den Festbänken und feierten ihn als Dorfhelden. Es herrschte Feststimmung wie bei einer Fussball-WM, und an der Bar fand der Rotwein Marke Survival-Saft 1999 mit Totenkopf-Etikette reissenden Absatz.
Die Fernsehserie «Expedition Robinson» wurde in den letzten zehn Wochen zum Ereignis. Der Privatsender TV3 der FACTS-Herausgeberin TA-Media AG lancierte mit dieser Reihe seinen Auftritt in der Schweizer Medienszene. Die «Expedition» findet nächsten Sonntag in einem Finale ihren Abschluss.
Dem letzten Überlebenden, dem «Robinson», wird die Krone aufgesetzt und eine Siegesprämie von 50 000 Franken überreicht.
«Jeder gegen jeden» lautet die einfache Grundregel von «Expedition Robinson». Damit reizt das Medium Fernsehen menschliche Emotionen mehr denn je aus.
Der Überlebenskampf der 16 Teilnehmer ist ein Mikrokosmos unserer Erfahrungswelt. Das Publikum beobachtet die Menschen auf der Insel wie Ameisen unter der Lupe. Zuneigung und Zwist, Vertrauen und Verrat, Kameradschaft und Kumpanei spielen sich vor den Augen der Zuschauer ab – 45 Minuten Voyeurismus pur pro Episode.
Das Fernsehen vermittelt scheinbar ein Stück Wirklichkeit, die mehr als ein modernes Märchen ist. «Expedition Robinson» will das menschliche Zusammenleben zeigen, wie es tatsächlich ist.
Der Bildschirm wird zum grossen Schlüsselloch. Dahinter spielen sich die Dramen ab, wie sie jeder und jede aus dem eigenen Alltag kennt. Doch dieser ist nicht grau und nebelverhangen wie im schweizerischen Mittelland, sondern reizvoll exotisch – der Stoff, aus dem Träume sind.
Tausend Videokassetten von je 35 Minuten Dauer kamen so zu Stande.
Nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt davon bekommt das Publikum in den 14 Sendungen jedoch zu sehen. Die Sendung «Expedition Robinson» zeigt die aufregendsten Partikel der Inselwirklichkeit.
Von einer «inszenierten Authentizität» spricht der Zürcher Soziologe Kurt Imhof. Diese konzentriere sich einzig auf die emotionalen Höhepunkte im Leben der Insulaner. Er beobachtete, wie die Kamera stets in der Totalen auf die Gesichter der nach Hause geschickten Opfer gerichtet ist. Das Publikum will nicht mehr nur Brot und Spiele, sondern verlangt nach den menschlichen Regungen. Das Private soll endlich öffentlich sein.
Das von einer skandinavischen Fernsehstation erstmals erprobte Sendeformat «Robinson» ist so einfach wie narrensicher: 16 erwachsene Menschen liessen sich im vergangenen Sommer auf zwei Inseln vor Malaysia verfrachten, um dort Sonne und Sand zu geniessen – unter Verzicht auf den alltäglichen Luxus. Das einfache Leben wurde einzig durch Geschicklichkeitsspiele unterbrochen, in denen sich die Teilnehmer als gewiefte Pfadfinder bewähren mussten. In einer Catch-as-catch-can-Runde mussten sie zum Schluss jeder Sendung über ihr eigenes Schicksal entscheiden. Jeweils einer oder eine hatte laut Mehrheitsentscheid das Inselparadies zu verlassen.
Um die Emotionen zu steigern, griff die Produktionsfirma Lava-TV möglicherweise zu Tricks. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz vermuteten die Mitspieler, die Fernsehleute hätten beispielsweise den Reisvorrat hinterrücks ungeniessbar gemacht. Der Hunger sollte ihre Nerven blank legen. Dies dementiert Basil Gelpke von Lava-TV allerdings. Immerhin räumt er ein: «Wir haben die Emotionalität herausgearbeitet, das war unser Job.» Die Emotionalität beruht auf der Intrige. Insulanerin Edith findet Mitspieler Andreas zwar einen «wertvollen Menschen» und stimmt trotzdem gegen ihn. Genauso wie Silvia, die ihn ebenfalls heimschicken will – und ihn vor der Kamera über den grünen Klee lobt. Der Mann überlebt die geballte Ladung Frauen-Power nur knapp; das TV-Publikum leidet mit.
«Expedition Robinson» kam bei den Zuschauern gut an, besonders bei den jungen. TV3 errang mit knapp 440 000 Zuschauern als erster Schweizer Privatsender in der Altersgruppe der 14- bis 49-Jährigen die Marktführerschaft. Schwerer hat es «Robinson» allerdings bei den Älteren: Im Vergleich zum gesamten TV-Publikum liegt die Inselsendung hinter der neuen DRS-Serie «Lüthi & Blanc» mit 611 000 Zuschauern deutlich zurück.
Für das Projekt wurden keine Kosten gescheut. Zwischen 3,5 und 4 Millionen Franken investierte TV3, was in der Branche als teuer gilt. Neben den Mitspielern agierte eine 55 Personen starke Crew aus der Schweiz, darunter sieben Reporter und ebenso viele Kameras. Dazu kamen 15 Helfer aus Malaysia, die zum Teil kurze Kameraauftritte erhielten, um koloniales Ambiente aufleben zu lassen.
Der Aufwand lohnte sich. «Das Publikum kann sich mit den Inselprotagonisten fast identifizieren», konstatiert der Basler FSP-Psychologe Markus Theunert, «die Helden sind ganz normale Leute; höchstens etwas mutiger als die Zuschauer selbst.» Dies erleichtert das Mitfiebern vor dem Bildschirm zu Hause.
Damit sich jeder und jede in der Sendung wieder erkennt, wählten die Produktionsleute aus den 600 Bewerbern möglichst unterschiedliche Charaktere aus. Vom distanzierten Freiburger Studenten Gérard über den Zürcher Agglo-Rapper Dodo bis zum unschuldigen Heidi-Typ Silvia aus der Zentralschweiz versammelte sich eine kleine Durchschnittsschweiz auf den Inseln Tengah und Mensirip. Ein Sportarzt testete vor der Expeditiondie Fitness der Teilnehmer, ein Psychologe ihre seelische Belastbarkeit. Schliesslich konnte man sich fernab der Heimat keine Zusammenbrüche leisten.
«Es hatte keinen einzigen Mobber auf der Insel», sagt Psychologe Thomas Spielmann, der als Projektbegleiter aufgeboten wurde. Für die «Robinson»-Leute war der im Fernsehen gezeigte tägliche Überlebens-kampf ein Gesellschaftsspiel wie jedes andere. Dies erklärt das Paradox, dass die Insulaner trotz scheinbaren Kampfs gegeneinander unisono von der «Geborgenheit» in der Gruppe schwärmen.
Was zu Hause peinlich wäre, ist vor der exotischen Kulisse akzeptiert: Silvia hat keine Probleme mit ihrer Nacktheit und badete auch so. Carlo hat keine Probleme, ins Meer zu urinieren. Und Andreas hat Probleme mit Körpergerüchen, stinkt selbst aber nicht, wie er bezeugt.
«Die Stimmung war immer hervorragend», bestätigt der Urner Carlo Herger, einer der langlebigsten Insulaner. Schwärmerisch lobt auch die Bernerin Edith Müller den Zusammenhalt der Überlebenskämpfer untereinander. Den beiden wird eine Liebesgeschichte nachgesagt, von der sie jedoch nichts wissen wollen. «Ich verliebte mich nur in die Insel», sagt Carlo ausweichend. Zum Bedauern von Produzent Basil Gelpke: «Gegen eine Sex- oder Liebesgeschichte hätten wir nichts gehabt. Sie hätte uns und das Publikum gefreut.» Doch Eros lässt sich nicht erzwingen, auf den Inseln herrschte tote Hose – zumindest vor der Kamera.
Nicht nur vom persönlichem Wohlbefinden profitierten die Expeditionsteilnehmer. Der 22-jährige Dominik Jud brachte sein erstes Rap-Album termingerecht zur Ausstrahlung der Serie auf den Markt. Er nutzte während der Dreharbeiten jede Gelegenheit, um sich vor der Kamera als Mundart- Rapper zu profilieren. Noch selbstbewusster agiert heute die 26-jährige Bündnerin Riccarda Andri, die inzwischen als Moderatorin für den Lokalsender Radio 24 arbeitet. Sie lässt auf eine Interview-Anfrage ausrichten, sie verkehre mit der Presse nur noch schriftlich – und zählt sich damit schon zur Topliga der Schweizer TV-Prominenz.
Ihren Aufstieg schaffte Riccarda mit kalkuliertem Einsatz. Im inszenierten Überlebenskampf geht es nie ums Ganze. Die Präsenz der Fernsehleute bedeutete Sicherheit; ärztliche Hilfe und psychologische Betreuung waren jederzeit verfügbar. «Kontrollierbarkeit ist enorm stressmindernd», sagt Psychologe Theunert.
Trotzdem hätte etliches schief laufen können, wie sich Projektbegleiter Spielmann erinnert. Das Trinkwasser sei mit Amöben verseucht gewesen. «Ich musste mit dem Arzt energisch intervenieren, dass es unverzüglich sauberes Trinkwasser für alle gibt», sagt Spielmann. Er musste nicht nur die Spieler betreuen, sondern auch die Crew, die nach vier Wochen unter dem Inselkoller litt.
Die Mitspieler zeichneten sich durch eine fast beängstigende Kooperations-bereitschaft aus. Dazu trug die Rolle des Moderators Silvan Grütter bei, der immer wieder über das Schicksal einzelner Teilnehmer entschied. So bezichtigte er beispielsweise die Insulaner Carlo, Edith und Andreas, sich bei ihrer Stimmabgabe gegen Dritte verschworen zu haben. Die beide Männer akzeptierten die Schelte wie begossene Pudel, einzig Edith wehrte sich halbherzig. Man wollte es mit dem Allmächtigen nicht verderben. Schliesslich winkten 50 000 Franken Preisgeld.
«So etwas wie Expedition Robinson würde es bei uns aus ethischen Gründen nicht geben», sagt Marco Stöcklin, Unterhaltungschef bei SF DRS. Dabei entdeckte sein Sender als Erster diese Form der Fernsehunterhaltung. Vor zehn Jahren übten ausgewählte «Steinzeitmenschen» in einem jurassischen Waldstück vor Kameras das Überleben.
Der damalige Moderator Röbi Koller will allerdings einen Vergleich mit der «Expedition Robinson» nicht gelten lassen: «Bei uns wurde nichts inszeniert.»
Über die Entwicklung von Reality- TV macht sich auch der 59-jährige Olav Brunner Sorgen, der älteste «Robinson»-Mitspieler: «Die Fernseh-Crews verlangen von den Mitspielern immer mehr Privates.»
Das beschäftigt den Medienwissenschaftler Heinz Bonfadelli: «Der Druck wächst, Personen blosszustellen, um die Spannung zu erhöhen.» Und diese könnten die Konsequenzen vielfach nicht abschätzen. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung ist das von RTL 2 soeben eingekaufte holländische PTV-Projekt «Big Brother». Da werden Menschen in einem Container eingeschlossen und wochenlang unerbittlich gefilmt.
Bei TV3 setzt man vorläufig weiter auf die exotische Insel. Eine zweite Staffel wird demnächst gedreht. Sie wird im nächsten Frühjahr oder Herbst auf den Sender kommen – und der Erfolg scheint gewiss.