Das «Züricher Modell»
Das Treffen in Zürich war streng geheim, der Plan kühn. Mit einer Schweizer Bank sollte die DDR-Wirtschaft gerettet werden. Der Ort war gut gewählt. Die Schweiz funktionierte als handelspolitische Drehscheibe für Ost-Deutschland.
Das vertrauliche Gespräch findet in der «Kronenhalle» statt, Zürichs teuerstem Restaurant. Die drei Herren sind auf Diskretion angewiesen. Ihre Idee, die in Geheimdienst-Protokollen unter dem Namen «Züricher Modell» in die Akten eingehen wird, ist für den politischen Zustand Europas von zentraler Bedeutung. An dem Abend spielen die drei Herren mit offenen Karten. Sie wissen, dass sie in der «Kronenhalle» unter sich sind.
Es ist der 9. Oktober 1981. Draussen herrscht Kalter Krieg.
Die Stimmung am Tisch ist ernst.
Soeben hat Polen seine Zahlungsunfähigkeit erklären müssen. Damit fällt die Regenschirmtheorie in sich zusammen: Moskau ist für die Schulden seines insolventen Satelliten nicht mehr aufgekommen. Der Westen dreht dem Ost-Block den Geldhahn zu.
Zusammengekommen sind die drei Herren im Zürcher Nobelrestaurant, um kurz vor Ladenschluss einen letzten Kredit über 50 Millionen Franken von einer Schweizer Bank an die DDR auszuhandeln. Sie sind mit allen Kompetenzen ausgestattet: Holger Bahl, Direktor der Bank für Kredit und Aussenhandel in Zürich, Horst Steinebach und Günter Grötzinger, Chefs der Intrac, einer staatlichen Handelsgesellschaft der DDR. Nach Abschluss des Geschäfts geht die Runde in der Zürcher «Kronenhalle» zum eigentlichen Thema über – dem «Züricher Modell».
Das Gespräch sollte von historischer Bedeutung werden. Es geht um die Zukunft der DDR. Die zentrale Frage ist, wie Ost-Deutschland trotz westlicher Kreditsperre vor dem wirtschaftlichen Kollaps zu retten ist.
Die Lösung, die sich im Lauf des Gesprächs ergibt, besteht aus zwei Komponenten. Ost-Berlin soll weiter Kredite in Milliardenhöhe erhalten. Als Drehscheibe für das Geschäft ist die Schweiz vorgesehen. Das Geld würde über eine neu konstruierte Schweizer Bank fliessen. Als Gegenleistung muss sich die DDR verpflichten, das Reisealter ihrer Bürger von 65 auf 60 Jahre zu senken. Die Mauer wäre damit für drei Millionen Menschen durchlässig geworden.
Die Kontakte zu den Regierungsspitzen sind gewährleistet. Die beiden Intrac-Vertreter Steinebach und Grötzinger haben direkten Zugang zum obersten DDR-Devisenbeschaffer, Alexander Schalck-Golodkowski, und damit auch zu Staatschef Erich Honecker. Der Zürcher Bankier Bahl seinerseits pflegt Beziehungen zum Kanzleramt in Bonn und zum Aufsichtsratsvorsitzenden der rheinland-pfälzischen Landesbank: Helmut Kohl, der ein Jahr nach dem Gespräch in der «Kronenhalle» Helmut Schmidt als Deutscher Bundeskanzler
ablösen sollte.
Das «Züricher Modell» versetzt die Nachrichtendienste in Ost und West in Aufregung. Es kommt zu Beschattungen, Abhöraktionen und schliesslich zu politischen Intrigen.
Die kühne Idee, Freiheit gegen Geld zu verlangen, war politisch gefährlich. Kein Politiker beidseits der Mauer war bereit, sich öffentlich dafür einzusetzen. Das geht aus Stasi-Akten hervor, die jetzt freigegeben worden sind. Auf über tausend Seiten, die FACTS vorliegen, werden die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der DDR dargestellt.
Ein wichtiges Kapitel trägt den Codenamen «Züricher Modell», so die offizielle Stasi-Schreibweise. Die Verhandlungen der beiden deutschen Regierungen über das Geheimprojekt verliefen vorsichtig, vertraulich und inoffiziell.
In den Überlegungen beider Verhandlungspartner spielt die Schweiz die zentrale Rolle: Auf dem damals weltweit grössten Markt für Handelsfinanzierung soll eine Schweizer Bank gegründet werden, an deren Aktienkapital sich die DDR und die BRD mit je 100 Millionen Franken beteiligen. Die Stasi-Akte 0 000 163 vom 29. Januar 1983 nennt den Zweck der Schweizer Finanzgesellschaft: «Finanzierung von langfristigen Investitionsmassnahmen in der DDR sowie die Finanzierung von Geschäften, die im gemeinsamen Interesse beider Aktionäre liegen.» Gezeichnet: Schalck-Golodkowski, oberster DDR-Devisenbeschaffer im Ministerium für Aussenhandel.
Dass ausgerechnet eine Bank mit Sitz in der Schweiz die DDR-Wirtschaft vor dem Infarkt bewahren sollte, ist kein Zufall. Das «Züricher Modell» ist vielmehr symptomatisch für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und der DDR. Sie sind umfangreich, klandestin und für die DDR lebenswichtig.
Zürich war für Ost-Berlin im Westen Kreditpartner Nummer eins, und – was für das Sicherheitsbedürfnis der DDR noch wichtiger war – der Finanzplatz befand sich auf neutralem Terrain. «Für die DDR wäre es undenkbar gewesen», sagt der Zürcher Bankier Holger Bahl, «das Kreditinstitut in einem Nato-Land zu gründen.»
Den Standortvorteil machten sich Schweizer Unternehmer im Geschäft mit der DDR generell zu Nutze. Besonders die Industriezweige Chemie, Maschinenbau, Textil und Elektronik exportierten regelmässig nach Ostdeutschland. Das Gesamtvolumen betrug über eine halbe Milliarde Franken jährlich. Die DDR, das dokumentieren die Stasi-Akten, konnte sich bei der Beschaffung westlicher Waren auf die Schweiz verlassen. Selbst wenn es um Güter ging, die unter das US-amerikanische Embargo fielen.
Westwaren besorgte sich die DDR unter anderem über neun Handelskanäle, so genannte Beschaffungslinien. Drei davon münden in der Schweiz. Zu dem Zweck liess Ost-Berlin gut getarnte Handelsfirmen eröffnen. In Lugano arbeitete für die «Beschaffungslinie 2» die Firma Intrac S. A., in Zug war die Firma Alli-mex AG für die «Beschaffungslinie 4» aktiv. Für die «Beschaffungslinie 9» wurde die Niederlassung der amerikanischen 3M (East) in Zug benutzt.
Die Beschaffung westlicher Güter aber kostet viel Geld. Die DDR ist – nach dem Kreditstopp von 1981 – dringender denn je auf Devisen angewiesen. Die westdeutsche Regierung unter Kanzler Schmidt ihrerseits braucht einen Erfolg in der innerdeutschen Entspannungspolitik. Das «Züricher Modell» kommt zur rechten Zeit. Bonn und Ost-Berlin geben deshalb ihren Unterhändlern grünes Licht für die Konkretisierung der Idee aus der Zürcher «Kronenhalle».
Pfaffhausen bei Zürich. Am 10. März 1982 findet im Haus des Zürcher Bankiers Holger Bahl ein Geheimtreffen statt. Im Wohnzimmer sitzen wieder die beiden Intrac-Chefs, Grötzinger und Steinebach. Aus Bonn angereist ist Karl Wienand, als Staatssekretär ein enger Vertrauter von Kanzler Schmidt. Die Vierer-Runde ist bestens vorbereitet. Bankier Bahl, Architekt des «Züricher Modells», legt seinen Gästen den Konstruktionsplan zur wirtschaftlichen Rettung der DDR vor. In den Stasi-Akten findet sich unter den Nummern 000 159 bis 000 167 ein Vertragsentwurf, eine Beschreibung der Modalitäten und ein Zeitplan.
Die Realisierung des «Züricher Modells» scheint reine Formsache. Im Spätsommer 1982 einigen sich BRD-Bundeskanzler Helmut Schmidt und DDR-Staatschef Erich Honecker über den Inhalt. Es fehlen nur noch ihre Unterschriften, die am 11. Oktober 1982 unter das Vertragswerk gesetzt werden müssen. Von diesem Tag an würde über die neu gegründete Schweizer Bank der Vier-Milliarden-Kredit an die DDR fliessen. Im Gegenzug verpflichtet sich die DDR, das Reisealter für ihre Bürger um fünf Jahre zu senken.
Die Unterzeichnung des «Züricher Modells» wäre für beide Lager ein politischer Erfolg. Und ein lukratives Geschäft. Wie lukrativ, das hatten Schweizer Banken mit dem DDR-Kreditgeschäft vorgemacht. Jahrelang hatten sie Profite erzielt, indem sie – mit dem Segen der Nationalbank – den Aussenhandel OstDeutschlands in grossem Umfang finanzierten. 1988 betrug das Guthaben der Schweizer Banken bei der DDR fast eine Milliarde Franken, was fünf Prozent der damaligen DDR-Staatsschuld entspricht.
Viel Geld für den Arbeiter- und Bauernstaat, wie aus den Stasi-Akten ersichtlich wird. «Das für das kleine Land relativ hohe Exportvolumen ist vor allem darauf zurückzuführen, dass mit der Schweiz sehr viele Drittlandgeschäfte gemacht werden», heisst es im Bericht Nummer 000 097 vom 5. 9. 1983. Die Schweiz finanzierte also auch Geschäfte zwischen der DDR und anderen Staaten.
In den offiziellen Angaben nicht enthalten sind Finanzgeschäfte, die in den Bilanzen der Schweizer Banken unterschlagen werden. Die Nationalbank ist zwar im Besitz der Zahlen, hält sie jedoch bis heute unter Verschluss. «Das Gesetz», sagt Nationalbank-Sprecher Werner Abegg, «verbietet es uns, über diese Transaktionen Auskunft zu geben.»
Eine Woche vor der Unterzeichnung des «Züricher Modells» kommt es zum Machtwechsel in Bonn. Helmut Kohl löst Helmut Schmidt als Kanzler ab. Das «Züricher Modell» wird auf Eis gelegt. Doch nicht für lange. Kohl erkennt die politische und wirtschaftliche Dimension des Vorhabens, das sich Bankier Bahl ausgedacht hat. Zudem kann sich Kanzler Kohl an Holger Bahl aus der gemeinsamen Zeit bei der rheinland-pfälzischen Bank noch gut erinnern. Bereits am 24. Januar 1983 ruft Kanzler Kohl DDR-Staatschef Honecker an und bringt unter anderem das «Züricher Modell» zur Sprache. Das Resultat des halbstündigen Telefonats schlägt sich in der Stasi-Akte Nummer 000 132 nieder: «Im Ergebnis dieser Übereinstimmung wurde durch Bahl im April 1983 die Industrie-Kredit-Anstalt Zürich (IKA) gegründet.» Damit nimmt das «Züricher Modell» zwar konkrete Formen an. Es untersteht aber weiterhin der «Vertraulichkeit erster Ordnung». Es gilt im Kalten Krieg als politisch anrüchig, die Herabsetzung des Reisealters mit Krediten zu erkaufen, also Freiheit gegen Geld einzutauschen. Noch schlimmer aber die Vorstellung, dem erklärten Feind jenseits der Mauer wirtschaftlich auf die Beine zu helfen. Kohl weiss, wenn das Geschäft vor Abschluss der Verhandlungen bekannt wird, sind seine Tage als Kanzler gezählt.
Auch in der Schweiz war der Handel mit dem Ost-Block politisch verpönt. Für rechtsbürgerliche Kreise grenzte der Osthandel an Landesverrat. In einer Interpellation vom 2. Oktober 1985 warnte Nationalrat und Wirtschaftsvertreter Peter Spälti: «Im Wettlauf um die Hochtechnologie darf die Schweiz nicht als Drehscheibe missbraucht werden.» Es gelte Rücksicht zu nehmen auf «unsere Neutralitäts- und Sicherheitspolitik, aber auch aus Rücksicht auf unsere Industrie».
Der Interpellant und mehrere Mitunterzeichner scheuten sich jedoch nicht, mit der DDR Geschäfte zu machen. Peter Spälti sass 1984 im Verwaltungsrat des Maschinenkonzerns Gebrüder Sulzer AG, der Hightech-Produkte nach Ost-Deutschland verkaufte (Stasi-Akte 000 101). Sein Parteifreund Ulrich Bremi sass ab 1987 im Verwaltungsrat der Schweizerischen Kreditanstalt, die führend war bei der Vergabe von Krediten an Ost-Berlin. Mitunterzeichner und SVP-Nationalrat Christoph Blocher wiederum vertrat mit den Emser-Werken ein Unternehmen, das in der DDR gern gesehener Gast war. Stasi-Akte 000 040 vom April 1978 berichtet, dass «die Emser-Werke seit Jahren gute Geschäftsbeziehungen mit der DDR» hätten.
Das «Züricher Modell» scheitert nicht an dogmatischen Einwänden. Geopfert wird es einer politischen Intrige wegen. Ein Fleischhändler aus Bayern – Josef März – hat aus der DDR für CSU-Chef Franz Josef Strauss die Unterlagen über das geheime Projekt mit Schweizer Beteiligung besorgt. Zusammen mit DDR- Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski lanciert Strauss das Konkurrenzmodell «Südschiene». Hinter dem Rücken von Kanzler Kohl. Um das «Züricher Modell» auszubooten, ist Strauss jedes Mittel recht. Die Motive des CSU-Chefs: «Strauss mochte Kohl den historischen Erfolg nicht überlassen, und er wollte die Deutschland-Politik an sich reissen», sagt Bahl heute. Strauss verspricht der DDR einen Kredit von zwei Milliarden und verzichtet auf politische Gegenleistungen. Um sicherzugehen, diskreditiert er die westdeutschen Unterhändler des «Züricher Modells» bei der Stasi und behauptet, sie seien von westdeutschen Nachrichtendiensten gesteuert.
Damit war Bahls Konstruktion zerschlagen. Nicht geklärt ist, ob westliche Machtpolitiker das Scheitern des «Züricher Modells» und damit letztlich den Untergang der DDR bewusst vorangetrieben haben. Die Wahrheit darüber steht in den Akten des Bonner Kanzleramts. Und die sind angeblich verschwunden.