Comic gegen Virus
Ein neuer Comic erklärt HIV-Infizierten, warum sie bis zu 14 Tabletten täglich schlucken müssen.
Die Diagnose «HIV-positiv» bedeutet seit wenigen Jahren nicht mehr das unbedingte Todesurteil. Mit neuen Kombinationstherapien kann das Virus zwar nicht ausgemerzt, aber wirkungsvoll in Schach gehalten werden. Trotzdem scheitert die Hälfte der lebensrettenden HIV-Therapien. Denn viele Patienten nehmen ihre Tabletten nicht oder nur unregelmässig.
Die Ärzte sind ratlos. Sie haben in den letzten Jahren viel über das Virus gelernt, und doch kann dies den Patienten anscheinend nicht von der Therapie überzeugen. Denn der steckt in einer emotionalen Krise, wo ihn kopflastige Erklärungen kaum erreichen können. Allzu oft versteht er nicht, warum er Medikamente nehmen und Nebenwirkungen erdulden soll, wo es ihm doch noch gut geht.
Eine neue Broschüre namens «HIVcare» soll Abhilfe schaffen. Mit der Hilfe von bunten Cartoons kann der Arzt dem Patienten die Krankheit erklären. Die Bilder sollen das Gespräch auf die Gefühlsebene bringen. Dahinter steckt die Idee, dass Bilder – anders als Worte – in der rechten, emotionalen Hirnhälfte verarbeitet werden. Dort sitzt auch das Langzeitgedächtnis. Die Cartoons seien ein «Direktschuss ins Hirn», sagt der Zürcher Aids-Arzt Ruedi Lüthy, der die Broschüre gemeinsam mit seinem Basler Kollegen Lucas Sponagel, dem Cartoonisten Pécub und Fachleuten des Pharmakonzerns Roche entworfen hat.
Der Anfang der Broschüre eröffnet das Gespräch: «Fühlen Sie sich im Schatten des Virus?» Das dazugehörige Bild zeigt ein klitzekleines Männchen, das von einem riesigen Virus überrollt zu werden droht. Das runde Comic-Virus erinnert entfernt an einen Morgenstern. Doch der Arzt, vertrauenserweckend mit Bärtchen gezeichnet, zeigt dem Patienten, dass er das Virus in die Schranken weisen kann. Das Comic-Männchen sperrt es in einen Käfig, zu dem es den Schlüssel in der Hand hält.
Falls er das nicht tut, erklärt die «HIVcare»-Broschüre, wird das Immunsystem angegriffen. Im Bild nagen dann Viren mit Haifischzähnen an den Wänden einer gefüllten Badewanne in Menschenform. Die Wanne läuft aus, und der Mensch wird zur schutzlosen Zielscheibe für Krankheiten – er hat Aids.
Doch auch das Virus ist nicht unverletzbar. Für die Vervielfältigung in den Immunzellen benötigt es zwei Assistenten, gezeichnet als Arbeiter in Latzhosen, die Transkriptase und die Protease. Die Medikamente legen den Helfern Handschellen an und stoppen die Produktion. Dazu werden in den heute üblichen Dreiertherapien zwei Transkriptasehemmer und ein Proteasehemmer verwendet.
Die Erklärungen sind nötig, damit der Patient versteht, warum er bis zu 14 Tabletten täglich schlucken soll. Die vielen Medikamente schneiden tief in seinen Tagesablauf ein und haben oft Nebenwirkungen. Dank neuer Präparate kommen manche Patienten heute zwar mit vier Tabletten zweimal täglich aus. Obwohl das die Disziplin verbessere, versagten zurzeit immer noch ein Drittel der Therapien, sagt Lucas Sponagel.
Das Problem ist bei Langzeitbehandlungen weit verbreitet, vor allem bei so genannten stillen Krankheiten, wo sich der Patient eigentlich gesund fühlt. Jeder kennt wohl einen Opa oder eine Tante, die mit dem Argument «mir fehlt doch nichts» auf ihre Herzpillen oder Blutdrucksenker verzichten.
Doch anders als bei diesen Leiden gefährdet der HIV-Patient mit dem Aussetzer nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Denn schon wenn er öfter mal zwei Dosen pro Woche verpasst, kann sich das Virus von seinen Fesseln befreien. Schlimmer noch – es kann sich so verändern, dass es gegen die Medikamente resistent wird. Schon heute stecken sich laut einer neuen US-Studie etwa zwei von hundert HIV-Infizierten mit einem resistenten Virus an. Bei einem Viertel vermindern Teilresistenzen die Wirkung der Medikamente, schreibt das «Journal of the American Medical Association». Erste Reaktionen der Patienten auf «HIVcare» zeigen, dass der Ansatz viel versprechend ist. «Die Broschüre hat mir als Laie das Wissen über die Tricks des Virus vermittelt», sagt Norbert Oberhofer*, der vor acht Jahren erfuhr, dass er HIV-positiv ist. «Die ganze Beschreibung in Wort und Bild ist so grandios gemacht, dass ich die Angst verloren habe.»
Im Januar soll «HIVcare» an einer Informationsveranstaltung Ärzten im HIV-Bereich vorgestellt werden. Anfang 2001 wird dann eine Studie abklären, ob der eingeschlagene Weg Erfolg hatte, ob die Patienten also besser Bescheid wissen und sich an die Therapie halten.
Erste Reaktionen von Ärzten auf das unorthodoxe Comic fallen eher kritisch aus. Dem Zürcher Arzt René Jacquard ist eine Broschüre zu unpersönlich. «Ich bin der Ansicht, dass ein vorgefertigtes Medium für ein individuelles Problem ungenügend ist», sagt er. Doch grundsätzlich findet er die Idee gut. «Die Ärzte wollen den Leuten helfen, und da ist jede Unterstützung recht.» Mit «HIVcare» kann der Arzt zum ganzheitlichen Betreuer werden, sagt Comic-Entwickler Lüthy.
«Wenn der Arzt die Gefühle ausklammert, ist er zwar als Techniker gut, aber als Arzt hat er versagt.»
* Name geändert.