Beirut die neue Freiheit

Beirut

Zehn Jahre nach dem Bürgerkrieg erobert der Tourismus die Hauptstadt des Libanons. Beirut ist die Vergnügungsmetropole des Nahen Ostens. Und sucht zwischen West-Lifestyle und arabischer Tradition eine neue Identität.

Der Weg zur Seele dieser Stadt führt 22 Treppenstufen hinab in den Untergrund. Das «B018», Beiruts bester Danceklub, ist drei Meter tief ins Erdreich gegraben. Wie ein bombensicherer Bunker oder ein riesiges Grab. Die Barmen des «B018» tragen weisse Uniformen, als wären sie Sanitäter, und die Türsteher stehen stramm wie Soldaten. Die Jugend Beiruts feiert an diesem grotesken Ort die Nacht, als wäre es die letzte. «Beiruts Seele wird an ihrer Vergnügungswut gesunden», sagt Naji Gebrane, der stets schwarz gekleidete, meist Whisky trinkende Besitzer des «B018». «Doch niemand soll vergessen, was diese Stadt alles durchgemacht hat.»
Das Pathos von Gebranes Worten geht im Gedröhne der Lautsprecher-Batterien unter. Der DJ spielt Wiener Drum ’n’ Bass: Remixes von Kruder & Dorfmeister. Das Publikum tanzt auf den Tischen, es ist zwei Uhr morgens, und plötzlich öffnet sich die pneumatische Dachkonstruktion des «B018», so dass der Sound zur Stadt hinaufschlägt.

Es ist Partytime in Beirut. Zehn Jahre nach Ende des Bürgerkrieges hat die libanesische Hauptstadt mehr zu bieten als Granatentrichter und zerschossene Fassaden. «Beirut is back», heisst es in Beirut. Zwar kommt der Wiederaufbau der 1,6-Millionen-Stadt nur stockend voran, doch dafür durchzieht ein hochtouriger Drive das Nachtleben. Die Bar- und Klubszene boomt, sie ist die vielfältigste des südöstlichen Mittelmeerraums. Bereits sprechen westliche Reiseveranstalter von der neuen «Spass-Metropole des Nahen Ostens».

Nicht bloss Beiruts Nachkriegsgeneration, die von den politischen Händeln der Vergangenheit die Nase voll hat, tanzt im «B018» oder in einem der anderen neuen Klubs ab. Libanons Hauptstadt ist wieder ein Touristenziel, die Zahl der Reisenden stieg 1998 um rund 25 Prozent. Auch Schweizer sind dabei, obwohl bekannt dafür, dass sie Feriendestinationen lange meiden, an denen mal Bomben hochgingen. Um 33 Prozent nahm in den vergangenen zwölf Monaten der helvetische Reiseverkehr nach Beirut zu.

Lange diente Beirut nur als Basis für Rundreisen: nach Baalbek etwa, Byblos und Tripolis. Erst in den letzten Jahren konnte sich die aus den Fugen geratene Stadt als eigenständiges Reiseziel neu etablieren. Beirut wirbt heute nicht nur mit der florierenden Vergnügungsindustrie, sondern auch mit klassischen Werten:
den antiken Wurzeln, dem orientalischen Flair, der ausgezeichneten Küche. «Unsere Stadt ist für viele verwöhnte Westler so sexy, gerade weil überall die Narben des Krieges zu sehen sind», sagt Bernard Khoury, Architekt des «B018». Das sei vielleicht pervers, aber wahr.

Khoury baute das «B018» nahe des Hafens, auf einem Gelände, wo sich 1975 beim Ausbruch des Bürgerkrieges ein palästinensisches Flüchtlingslager befand. Bei einem Angriff christlicher Milizen wurden Hunderte von ihnen getötet, Tausende vertrieben. «Was lag näher, als das «B018» wie ein gigantisches Grab zu bauen», sagt Khoury. Das «B018» ist das erste realisierte Projekt des 31-Jährigen – dafür brachte gleich das britische Lifestyle-Magazin «Wallpaper» einen Bericht über sein Gesellenstück.

Absurditäten und Gegensätze haben Beirut schon immer eine besondere Faszination verliehen: damals, als die Stadt während der Kämpfe zugleich Symbol für eine irrsinnige Zerstörungswut und einen unbändigen Überlebenswillen war; und heute, da die einen ihrer Bewohner in Saus und Braus, die andern immer noch in Trümmern leben.
Entlang der Grünen Linie, die Beirut in Ost und West, den christlichen und muslimischen Sektor teilte, sind die Schäden des Krieges am augenfälligsten: Schutt, Ruinen, von Maschinengewehrfeuer aufgerissene Mauern. In unmittelbarer Nachbarschaft, mitten im Stadtzentrum, befindet sich die wohl grösste Baustelle der Welt: Auf 1,8 Quadratkilometern wird Downtown Beirut neu errichtet. Tausende syrischer Gastarbeiter stampfen Bank- und Bürogebäude, Luxusgeschäfte, Hotels und schicke Apartmentblocks aus dem Boden.
Die gigantomanische Überbauung «Solidere» ist ein postmoderner Architektur-Mix: futuristische Glas- und Marmorbauten stehen neben Gebäuden in klassisch-orientalischem Baustil. Das seelenlose Viertel ist eine milliardenteure Flucht in die Zukunft. Wer das bezahlen soll, ist selbst den Beirutern ein Rätsel. Sicher ist: Für die Sanierung der vor allem von Muslims bewohnten Slumgebiete am Rande der Stadt bleibt kein Geld mehr. Die aufstrebende Vergnügungsbranche richtet sich östlich der Retortengeburt «Solidere» ein, in Beiruts Trendviertel Achrafiye. Viele der alten Jugendstilvillen sind unbeschädigt. Die Gassen verweigern sich Beiruts mörderischem Verkehrschaos, dafür bummeln Touristen, gehen die Einheimischen auf Shoppingtour, und an Stelle von Baggern säumen Bäume den Weg. Die Winkel und Ecken des Viertels erinnern an eine südfranzösische Küstenstadt. In Achrafiye öffnen die neuen Klubs, Boutiquen und Bars.

«Vor fünf Jahren befanden sich gerade zwei Restaurants an unserer Strasse, heute sind es zehn», sagt Andreas Boulos, Geschäftsführer der Szenebar «Pacifico» an der Rue Monot. Der Deutsch-Libanese ist 1994 von München nach Beirut ausgewandert, um eine Gastrokarriere zu starten. «Wir wagen hier den Crossover von westlichem Lifestyle und arabischer Kultur», sagt Boulos. «Keine andere Nightlifeszene verändert sich in einem solchen Tempo wie die Beiruts.»

Im «Pacifico» trifft sich das Szenevolk: Architekten, Makler, Werberinnen, Studenten und Studentinnen aus besserem Hause. Die Frauen sehen klassisch sexy aus: kurze Röcke, knallenge Tops, lange Haare. Die meisten Schönheiten dieser Stadt halten sich an den Dresscode, alternatives Styling gilt als Armutszeugnis im wörtlichen Sinne. Der Beiruter Mann geniesst mehr modische Freiheiten, ist er allerdings statusbewusst, sollte er gleich zwei «kleine Schwarze»
tragen. So heissen im lokalen Sprachgebrauch Handys. Bei aller Ausgelassenheit am Tresen, grosszügig zur Schau getragener Erotik: Die in westlichen Labels gekleideten jungen Leute halten traditionelle Werte hoch. Die Frauen sind meist mit ihrem Freund unterwegs, und «One-Night-Stands sind hier eher die Ausnahme», sagt «Pacifico»-Geschäftsführer Boulos.
Beirut ist eine urbane Achterbahn, ein reanimierter Vergnügungspark, auf dem nicht nur ganze Quartiere neu entworfen werden, sondern auch die Biografien der Menschen. Doch vor allem ist die Stadt ein hartes Pflaster. Das härteste der Welt, wie die Beiruter sagen.

«In der Nacht geben sich alle cool, relaxt. Aber am Tag versuchen sie knallhart, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen», sagt Faysal al Jamal. Der 29-jährige promovierte Jurist hat seinen eigenen Weg gewählt, um zum Erfolg zu gelangen: Nach dem Studium arbeitete er als DJ, und vor neun Monaten übernahm er im Hamra-Quartier den Klub «Smuggler’s Inn». «Wir Beiruter haben in langen Jahren gelernt, uns durchzuschlagen», sagt der Neounternehmer.

Wenn viele von al Jamals Landsleuten während des Krieges vergassen, weshalb sie eigentlich kämpften, so ist nun der Vorteil des Friedens, dass die meisten wissen, wofür sie fighten: für einen 3er-BMW, besser einen S-Klasse-Mercedes, das neue Ericsson-Handy T28s, eine der sündhaft teuren Wohnung an der Strandpromenade Corniche. Da macht die Religionszugehörigkeit keinen Unterschied.

Ein Gewinner im neuen Verteilungskampf ist der Beiruter Haute Couturier Robert Abi Nader. Die billigsten seiner Kleider kosten 8000 Franken. Doch seine Klientel – reiche Libanesen, superreiche Saudis – legt auch ein ganzes Vermögen hin für eine spezielle Kreation: für das Kleid aus Goldfäden beispielsweise. Abi Nader, einer der erfolgreichsten Modedesigner des Libanons, zeigt seine Kollektion nach Paris und London jetzt wieder in der Heimatstadt. An der Beiruter Fashion Week vom vergangenen Mai lief Topmodel Naomi Campbell in einer Brautrobe made by Abi Nader. «Schöne Kleider, wirklich schöne Kleider sind wichtig, weil der Krieg so viel Hässliches zurückgelassen hat», sagt Abi Nader. Der exzentrische Haute Couturier rasiert sich täglich die Achselhaare, er selbst trägt am liebsten verwaschene Latzhosen und Turnschuhe, und an seinem schmalen Handgelenk prangt eine protzige Swatch Beat. Im Osten der Stadt, nahe der Küstenstrasse und wenige Meter entfernt von Gebäuderuinen, hat sich der Luxusschneider im vierten Stock eines Apartmenthauses sein Palästchen eingerichtet. Im Entree blitzen Spiegelwände, vor denen ständig die Sekretärin tänzelt. Abi Naders Büro ist in Plüsch und eine üppige Golddekoration gepackt. Ihr ist allerdings ebenso wenig zu trauen wie dem Modemacher, wenn er behauptet, er sei gerade 29 geworden.

Der mindestens fünf Jahre ältere Abi Nader lässt gerade seinen Salon vergrössern, um Modeschauen für seine besten, meist saudiarabischen Kundinnen abzuhalten. Deren Männer vergnügten sich derweil im Kasino ausserhalb der Stadt oder in einem der neuen Bordelle, sagt der Designer. «Beirut ist ein wenig das Ibiza der arabischen Touristen.» Abi Nader lächelt. Auf jeden Fall sei die Stadt auf dem richtigen Weg in die Zukunft.

Wenn die Beiruter nach vorne blicken, schwebt ihnen meist die goldene Vergangenheit vor. Anfang der Siebzigerjahre war Beirut die wichtigste Reisedestination im Nahen Osten. Rund zwei Millionen Touristen besuchten jedes Jahr die Stadt. 1975, mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs, riss der Fremdenverkehr gänzlich ab: In den Luxushotels richteten die Kriegsparteien – Phalangisten, Palästinenser, Christen, Drusen und Syrer – ihre Kommandozentralen ein.

Seit 1990 – nach 15 Jahren Zerstörung, Terror und 150 000 Toten – versucht das Land, die Tourismusindustrie zur alten Grösse zurückzuführen. Dabei ist die Korruption in Regierung und Verwaltung genauso hinderlich wie die gelegentlichen Luftangriffe der Israeli, die letztmals Ende Juni Elektrizitätswerke um Beirut bombardierten. Um der touristischen Rückeroberung der Stadt nachzuhelfen, lässt die Regierung alte Postkarten neu auflegen. Sie zeigen Beirut vor dem Bürgerkrieg: von der Sonne beschienen und unversehrt.

Nicht alle Beiruter wünschen sich eine Stadt zurück, die einem Postkarten-Klischee gleichkommt. Am Wiederaufbau entzündet sich der Streit um den Umgang mit der Vergangenheit. «Das Aufbauprogramm der Regierung ist Bullshit», sagt die 31-jährige Architektin Manu Hallak, «in Beton gegossener Kitsch.»
Hallak, die tagsüber Wohnungen für die Mittelschicht baut, kämpft nach Feierabend mit Bittschriften und Petitionen für die Erhaltung eines schwer beschädigten Hauses an der ehemaligen Grünen Grenze. Das Jugendstil-Gebäude war ein wichtiger Stützpunkt für Scharfschützen der Christen-Milizen. Die 14 Snipers kontrollierten von hier aus eine Hunderte Quadratmeter grosse Todeszone: Sie schossen auf jeden. Egal, ob ihre Ziele Muslime oder Christen waren.

Im Innern des Hauses sind immer noch Sandsäcke aufgeschichtet, durch die Schiessscharten dringt die Sonne. Am Boden liegen verrostete Patronenhülsen. «In diesen Räumen zeigt sich die ganze Hinterlist des Krieges», sagt Hallak, die das Gebäude vor dem Abriss retten und in ein Künstlerhaus umbauen will – ein Projekt, das Beirut, dieses Jahr zur arabischen Kulturhauptstadt gekürt, gut anstehen würde. Hallak sammelt fieberhaft Geld, um das Sniper-Gebäude zu kaufen, und sie weiss, wie man die Beiruter zum Spenden verführt: Die junge Architektin lässt auf dem Dach des ehemaligen Killer-Bollwerks eine Party steigen. Für Hallak, die «lustvollste Weise, Vergangenheit zu bewältigen».

«Wir Beiruter sind alle auf der Suche nach einer neuen Identität», sagt Bernard Khoury, der Architekt des «B018». Ein Schritt dazu, meint Khoury, sei der von ihm erbaute Spassbunker, in dem Beiruts neue Party-Generation gewissermassen auf den Toten des Krieges tanze und sich westlicher Lifestyle mit der Geschichte der Stadt vermenge. «Auf jeden Fall», sagt Khoury, «zieht mein Bauwerk mehr Besucher an als das offizielle Mahnmal für den Bürgerkrieg, das Friedensmonument vor dem Verteidigungsministerium.» Sein Partner, Klubbesitzer Gebrane, nickt und fügt hinzu, dass übrigens im vergangenen Mai auch Naomi – Naomi Campbell – im «B018» vorbeischaute, nach dem sie aus dem Brautkleid von Designer Robert Abi Nader geschlüpft war.
Das «B018», das erfolgreichste Produkt der boomenden Beiruter Partyindustrie, ist faszinierend und absurd zugleich. Wohl deshalb hat es das Interesse einer zweiten Stadt geweckt, die ebenfalls lange eine widersinnige Zweiteilung hinnehmen musste. Gebrane und sein Architekt Khoury verhandeln zurzeit mit deutschen Partnern, um eine zweite Diskothek in den Boden zu treiben: mitten in Berlin, auf einem ehemals von Hausbesetzern okkupierten Grundstück. «Sollte das Projekt klappen», sagt Bernard Khoury, «dann wäre das «B018» ziemlich das Einzige, was der Libanon in der letzten Zeit exportiert hat».

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